
Die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada hat den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund überreicht bekommen. Gewürdigt wurde ihr vielschichtiger und spielerischer Umgang mit Sprache in unterschiedlichen literarischen Formen. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin bedankte sich für die Unterstützung, die sie als „seltenes Geschenk“ verstehe.
Weltbeobachtende Literatur mit Witz, Wärme und Sanftmut
Yoko Tawada schreibt Essays, Gedichte, Dramen, Romane und andere Prosatexte – sowohl in ihrer Muttersprache Japanisch als auch auf Deutsch. In ihren Texten nimmt die Sprache selbst stets eine besondere Rolle ein. Dafür wurde sie am Sonntag (14.Dezember 2025) mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. Der Literaturpreis wird traditionell in zeitlicher Nähe zum Geburtstag von Nelly Sachs (geboren am 10. Dezember 1891) verliehen.

In ihrer Laudatio hob Jurymitglied Jona Elisa Jeska, Verlegerin und Publizistin, Tawadas Leichtigkeit im Umgang mit Sprache und ihre Sicht auf die Welt hervor. „Ihre Literatur ist philosophisch und weltbeobachtend, mit Witz und Wärme und Sanftmut. Es geht um Beziehungen statt Statussymbole, um Reisen statt Ankommen“, so Jeska. „Wie kaum eine andere Literatin in Deutschland arbeitet Tawada an einer Sprache, die offen und einladend ist. Nach der Lektüre ihrer Texte kommt mir die Welt freundlicher vor. Das Staunen, in das sie uns immer wieder versetzt, verleiht Mut, doch noch alles anders zu betrachten.“
Übergeben wurde der Preis von Bürgermeisterin Britta Gövert. Sie hob die Offenheit und Grenzlosigkeit von Tawadas Schreiben hervor: „Was mich an Ihrem Schreiben besonders berührt, ist dieser stille, kluge Mut, die Dinge anders zu sehen. Ihre Literatur ist ein offener Raum – ohne starre Identitäten, ohne feste Grenzen“.
Tawada erinnert in ihrer Dankesrede an Nelly Sachs
In ihrer Dankesrede erinnerte Yoko Tawada an die Namensgeberin des Preises, Nelly Sachs, und an deren Fluchterfahrung vor dem Holocaust und dem Nazi-Regime. „Das Gefühl, verjagt und vernichtet werden zu sollen, hörte nie auf“, so Tawada.

Die Autorin, die in Hamburg Literaturwissenschaften studiert hat, sprach über ihre Erfahrungen, in einem anderen Land und mit einer fremden Sprache zu leben und zu arbeiten. Es ist ihr wichtig in ihrer Arbeit Kulturen zu verbinden. Dortmund vergibt den Nelly-Sachs-Preis seit 1961 an Autor:innen, die Brücken zwischen Sprache, Kulturen und Identitäten bauen.
Diesen Gedanken griff Tawada in ihrer Rede bewusst auf und reflektierte ihn sprachlich: „Der Ausdruck „eine Brücke schlagen“ wirkt wegen des Wortes „schlagen“ beunruhigend, sogar ein wenig militärisch, auf mich“. Weiter sagte sie: „Ich werde versuchen, Kulturen und Zeiten, Wörter und Sprachen, Menschen und andere Lebewesen mit einem Faden aus Licht miteinander zu verbinden und weil es nicht selbstverständlich ist, dass ich für diese Arbeit eine Unterstützung bekomme, werde ich die heutige Auszeichnung als ein seltenes Geschenk verstehen und dafür sehr dankbar sein.“
Neuer Roman erzählt über Menschen aus Sicht der Dinge
Bereits am Tag vor der Preisverleihung war Yoko Tawada in Dortmund zu Gast. Im Literaturhaus Dortmund stellte sie ihren neuen Roman „Eine Affäre ohne Menschen“ vor. Erzählt wird darin eine Liebesgeschichte zweier völlig gegensätzlicher Menschen. Das Besondere: Die Geschichte wird nicht aus der Perspektive der Menschen selbst erzählt, sondern aus der Sicht der Dinge, die sie umgeben – darunter Stiefel, Duschkopf, Kaffeemaschine, Spiegelei, Regenschirm und Sneakers.

Yoko Tawada wurde 1960 in Tokio als Tochter eines Buchhändlers geboren. Dort studierte sie zunächst Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt russische Literatur. Ab 1982 studierte sie Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg. Heute lebt sie in Berlin. In ihren Arbeiten setzt sich Tawada auf besondere Weise mit gesellschaftlichen Fragen auseinander und macht dabei häufig die Sprache selbst zum Thema. Beispiele dafür sind der Gedichtband „Abenteuer der deutschen Grammatik“oder ihre Essays unter dem Titel „akzentfrei“.
Das war auch für die Jury ein wichtiger Punkt bei der Entscheidung: „Tawadas Texte sind spielerisch. In immer wieder anderer Art und mit großer Lust am Experimentieren erkundet sie Zwischenräume. In ihrer surrealen Poetologie demontiert sie Sprache und Wahrnehmung in einzigartiger Weise. Dabei sind Humor und Ernst, Dokument und Fantasie oft nicht zu unterscheiden“.
Über den Nelly-Sachs-Literaturpreis
Mit dem Nelly-Sachs-Literaturpreis ehrt und fördert die Stadt Dortmund alle zwei Jahre Persönlichkeiten, die herausragende Leistungen im literarischen und geistigen Leben erbringen und zur Verbesserung der kulturellen Beziehungen zwischen Ländern beitragen. Die Preisträger:innen stehen für Toleranz, Respekt und Versöhnung und setzen sich für ein friedliches Zusammenleben in einer globalisierten Gesellschaft ein.
Erstmals verliehen wurde der Preis 1961 an Nelly Sachs selbst. Später ging der Preis u.a. an Nadine Gordimer (1985), Milan Kundera (1987), Javier Marias (1997), Christa Wolf (1999), Per Olov Enquist (2003), Margaret Atwood (2009) und Marie N’Diaye (2015). Letzter Preisträger war 2023 Saša Stanišić.

