Stresstest: Neue Zahlen zu Rechtsextremismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit

Prof. Sebastian Kurtenbach im Nordstadtblogger-Podcast „Systemfehler“

Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach von der FH Münster im Nordstadtblogger-Podcast.

Dortmund hat ein Problem, das nicht am Rand beginnt – sondern mitten in der Stadtgesellschaft. Neue Daten zeigen erstmals mit bedrückender Klarheit, wie weit Misstrauen, Abwertung und Feindseligkeit in den Alltag vieler Menschen reichen. Im Podcast „Systemfehler“ spricht Journalist Alexander Völkel mit Prof. Dr. Sebastian Kurtenbach von der FH Münster darüber, was diese Erkenntnisse für den neuen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus bedeuten – und weshalb nicht die Jüngsten, sondern vor allem die Mitte der Gesellschaft im Fokus stehen sollte. Daraus leitet sich eine völlige Neuausrichtung der Präventionsarbeit und Demokratiestärkung ab.

Vom „Dortmund-Plan“ zur Neuauflage

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich der Rechtsextremismus in Dortmund gewandelt hat. Früher prägten klar erkennbare Neonazis das Bild. Heute gibt sich die Szene deutlich bürgerlicher und versucht, stärker in die gesellschaftliche Mitte vorzudringen. Demokratiefeindliche Haltungen treten weniger offen gewaltförmig auf, wirken dafür aber breiter und tiefer. Genau dafür brauche es einen neu zugeschnittenen Aktionsplan, betont Kurtenbach im Gespräch.

Das tradierte Bild der letzten Jahre bzw. letzten zwei Jahrzehnte: Neonazis in Dorstfeld. Doch die Problemlagen und Herausforderungen sind heute ganz andere. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der lokale Aktionsplan entstand als Reaktion auf die extrem rechte Raumnahme in Dorstfeld. Dort versuchte die Szene über Jahre hinweg, den Stadtteil sichtbar zu dominieren – mit Demonstrationen, Symbolen und Einschüchterungsversuchen.

Zivilgesellschaft, Stadtverwaltung und Polizei stemmten sich gemeinsam dagegen. Der Aktionsplan, oft „Dortmund-Plan“ genannt, bündelte diese Aktivitäten und schuf einen dauerhaften Rahmen für kommunale Präventionsarbeit.

Jetzt folgt eine umfassende Überarbeitung. Rechtsextremismus bleibt ein Schwerpunkt, doch Antisemitismus rückt als eigenständiges Handlungsfeld stärker in den Mittelpunkt und steht künftig im Titel.

Dazu kommt der breitere Blick auf gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – also die Abwertung von konstruierten Gruppen wie Muslim*innen, Jüdinnen und Juden, Roma, Geflüchteten, Langzeitarbeitslosen oder Menschen mit Behinderung. Grundlage ist die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“: die Überzeugung, manche Menschen seien weniger wert als andere.

So arbeitet das Forschungsteam der FH Münster

Das Projekt besteht aus vier Bausteinen. Zunächst hat das Team der FH Münster mit Fachkräften gesprochen, die bisher den lokalen Aktionsplan umgesetzt haben. Sie schilderten, welche Maßnahmen gut funktionieren, wo sie Grenzen sehen und welche Wünsche sie für die nächste Phase haben.

Israelbezogener Antisemitismus wird immer sichtbarer – auch in Dortmund. Foto: Alexander Völkel

Zudem analysieren die Forschenden die aktuelle Struktur der rechtsextremen Szene in Dortmund, die sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat.

Ein weiterer Schwerpunkt gilt Antisemitismus und türkischem Ultranationalismus. In diesen Bereichen führt das Team vertiefende Interviews mit Betroffenen. Die im Podcast besprochenen Ergebnisse stammen überwiegend aus den beiden großen Befragungen in Stadtgesellschaft und Schulen.

Jüngere lehnen Vorrechte für „Etablierte“ deutlicher ab

Parallel dazu liefen zwei große Befragungen: eine repräsentative Umfrage unter Dortmunderinnen zwischen 18 und 75 Jahren sowie eine schriftliche Befragung von mehr als 1.000 Schülerinnen der zehnten Klassen.

Ein Themenblock beleuchtet die Vorstellung „etablierter Vorrechte“. Gemeint ist die Haltung, dass Menschen, die „schon länger hier sind“, mehr Rechte haben sollten als Zugezogene. Eine zugespitzte Frage lautet: „Wer hier schon länger lebt, sollte mehr Rechte haben.“ Die Daten zeigen: Erwachsene stimmen dieser Idee deutlich häufiger zu als Schüler*innen, die diese Vorstellung mehrheitlich klar ablehnen.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Ähnlich fällt das Bild bei einer weicheren Formulierung aus: Menschen, die neu in eine Stadt kommen, sollten sich zunächst „mit weniger zufrieden geben“. Unter Erwachsenen findet diese Aussage wesentlich mehr Zustimmung, während Jugendliche sie deutlich kritischer sehen. Kurtenbach führt das auch darauf zurück, dass jüngere Menschen in Dortmund viel häufiger mit Zugewanderten aufwachsen und Vielfalt im Alltag erleben.

Rassismus und Roma: Deutlichere Ablehnung bei Jugendlichen

Rassismus erfasst das Forschungsteam mit bewusst klaren und direkten Fragen. Eine Aussage lautet etwa: „Bestimmte ethnische Gruppen oder Völker sind von Natur aus fleißiger als andere.“ Beide Gruppen – Erwachsene wie Schüler*innen – lehnen diese Behauptung mehrheitlich ab.

Gleichzeitig stimmt jedoch etwa ein Viertel der Erwachsenen und ein Fünftel der Jugendlichen zu, während ein großer Teil sich mit „teils, teils“ nicht eindeutig positioniert. Für Kurtenbach ist das ein Zeichen, dass Rassismus weiterhin tief in Einstellungsstrukturen verankert bleibt.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Besonders sensibel ist der Blick auf Roma, die vor allem in der Dortmunder Nordstadt immer wieder in Debatten über Zuwanderung auftreten. Die Studie prüft das klassische Vorurteil, Roma würden zur Kriminalität neigen. In der erwachsenen Bevölkerung halten sich Zustimmung, Ablehnung und unentschiedene Haltungen ungefähr die Waage. Bei den Schüler*innen ist die klare Ablehnung dieses Stereotyps deutlich stärker. Für den Forscher zeigt das: Antiziganistische Vorurteile bleiben vor allem unter Erwachsenen ein Problem.

Muslimfeindlichkeit und Bilder von Geflüchteten

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Feindlichkeit gegenüber Musliminnen. In Anlehnung an Debatten in den USA fragte die Studie, ob Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden solle. Etwa jede fünfte erwachsene Person in Dortmund hält das für eine gute Idee. Rund die Hälfte lehnt das ab, der Rest bleibt unentschieden. Unter Jugendlichen ist die Ablehnung deutlich stärker ausgeprägt. Kurtenbach erklärt das unter anderem mit der höheren Alltagspräsenz muslimischer Mitschülerinnen.

Besonders deutlich fallen die Unterschiede bei der Sicht auf Geflüchtete aus. Auf die Aussage „Die meisten Flüchtlinge kommen nur hierher, um das Sozialsystem auszunutzen“ reagiert eine Mehrheit der Erwachsenen mit Zustimmung.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Der Forscher vermutet, dass der hitzige Bundestagswahlkampf zur Zeit der Befragung diese Wahrnehmung verstärkt hat. Schülerinnen und Schüler widersprechen dieser Behauptung deutlich häufiger. Viele von ihnen kennen Geflüchtete persönlich und erleben deren oft prekäre Lebenssituation, die wenig mit dem Bild der „Sozialstaatsausnutzung“ zu tun hat.

Sexismus, Homofeindlichkeit und Antifeminismus

Beim Thema Gleichberechtigung zeigt sich ein vergleichsweise ruhiges Bild. Die Aussage, Frauen wollten bei der Gleichstellung „eigentlich mehr Macht als Männer“, lehnen rund zwei Drittel der Befragten ab – sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen. Ähnliche Werte finden sich bei der Frage, ob Frauen sich stärker auf die Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrieren sollten. Kurtenbach sieht darin den Hinweis, dass Sexismus zwar weiterhin Thema bleibt, sich aber nicht dramatisch zuspitzt.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Deutlich anders sieht es bei Homosexualität aus. Die Aussage „Homosexualität ist unmoralisch“ findet unter Erwachsenen kaum Zustimmung. Unter Jugendlichen ist die Ablehnung schwächer, die Vorbehalte fallen dort deutlich größer aus. Schulsozialarbeiter berichten dem Forschungsteam, dass die Ablehnung von trans Personen in der Praxis noch ausgeprägter sei – auch wenn das in der Befragung nicht direkt abgeprüft wurde. Kurtenbach verweist auf die schwierige Phase der Identitätssuche, in der binäre Geschlechterbilder als Orientierung dienen, und auf extremistische Narrative, die Vielfalt gezielt abwerten.

Klassismus und Ableismus: Harte Urteile, klare Ablehnung von Ausgrenzung

Klassismus, also die Abwertung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage, wird am Beispiel von Langzeitarbeitslosen abgefragt. Die Aussage „Langzeitarbeitslose machen sich auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“ stößt in beiden Gruppen auf hohe Zustimmung.

Kurtenbach zeigt sich im Podcast überrascht, gerade mit Blick auf den tiefgreifenden Strukturwandel in Dortmund und die weit verbreitete Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Wer selbst schon mit dem Sozialstaat zu tun hatte, weiß, dass es sich nicht um eine „Hängematte“ handelt, betont er.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Ganz anders fällt das Bild beim Thema Ableismus aus, also der Abwertung von Menschen mit Behinderung. Die Aussage, es sei „für alle besser, wenn behinderte Menschen unter sich bleiben“, findet fast keinerlei Zustimmung. In beiden Befragungen lehnen große Mehrheiten diese Trennungsidee ab. Viele Schülerinnen erleben Mitschülerinnen mit Behinderung selbstverständlich im gemeinsamen Schulalltag. Für Kurtenbach gehören diese Ergebnisse zu den wenigen klaren positiven Signalen in den Daten.

Antisemitismus: Kleine Minderheit mit großer Wirkung

Antisemitismus betrachtet das Team in mehreren Dimensionen. Zunächst geht es allgemein um die Akzeptanz von Jüdinnen und Juden. Die Aussage „Es gibt zu viele Juden in Deutschland“ lehnen sowohl Erwachsene als auch Jugendliche mehrheitlich ab. Gleichzeitig zeigt sich insbesondere bei jüngeren Menschen Unsicherheit in der Einschätzung, wie wichtig jüdisches Leben für Deutschland ist. Viele haben kaum bewusste Kontakte zu Menschen jüdischen Glaubens.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Sorgen bereiten vor allem Fragen, die klassisches antisemitisches Misstrauen abbilden. Aussagen wie „Juden kann man nicht trauen“ oder die Unterstellung, Jüdinnen und Juden hätten zu viel Einfluss, stoßen zwar auf deutliche Ablehnung. Dennoch stimmt eine kleine, aber klar erkennbare Minderheit zu – bei Jugendlichen teilweise häufiger als bei Erwachsenen.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Kurtenbach schätzt, dass etwa fünf Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Dortmund einen manifesten Antisemitismus zeigen, also mehreren klar antisemitischen Aussagen zustimmen. Schon dieser Anteil stellt nach seiner Einschätzung eine erhebliche Bedrohung dar.

Israel, muslimische Befragte und die „demografische Mitte“

Besonders sensibel sind die Antworten zum Staat Israel. Die Forschenden fragen unter anderem nach der Anerkennung des Existenzrechts Israels. Vor dem Hintergrund des Krieges im Gazastreifen registriert das Team erhöhte Zustimmungswerte zu israelfeindlichen Aussagen, insbesondere unter Schüler*innen.

Kurtenbach hält die emotionale Betroffenheit und die wuchtigen Bilder der Gewalt zwar für nachvollziehbar, sieht aber einen klaren Bildungsauftrag, die historische Grundlage des Existenzrechts Israels besser zu vermitteln.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Die Auswertung nach Religionszugehörigkeit zeigt: Unter befragten Musliminnen liegen antisemitische Einstellungen deutlich höher als im Durchschnitt. Kurtenbach warnt gleichzeitig davor, daraus eine pauschale Abwertung von Musliminnen abzuleiten.

Für ihn belegen die Daten vor allem, dass klassische Formen der Antisemitismusprävention, die stark an die Erinnerung an den Holocaust anknüpfen, viele Menschen mit Einwanderungsgeschichte nicht erreichen. Nötig seien neue Formate, die gemeinsame Betroffenheiten durch rechtsextreme Gewalt – etwa durch die NSU-Morde – stärker betonen.

Auffällig sind zudem Unterschiede nach Alter und Geschlecht. Männer zeigen durchgängig höhere Werte gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und auch beim Antisemitismus als Frauen – sowohl unter Jugendlichen als auch unter Erwachsenen.

Besonders problematisch ist laut Kurtenbach die „demografische Mitte“ zwischen 35 und 55 Jahren. In dieser Altersgruppe liegen die Werte für Menschenfeindlichkeit am höchsten, gleichzeitig schätzen viele ihre eigene Fähigkeit, politische Prozesse zu verstehen, eher gering ein. Diese Gruppe bildet zudem einen Kernteil der AfD-Wählerschaft.

Konsequenzen für Dortmunds Präventionsarbeit

Eine zentrale Botschaft der Studie lautet: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist kein Randphänomen. Sie sitzt mitten in der Dortmunder Stadtgesellschaft und lässt sich nicht auf eine klar eingrenzbare Szene wie früher in Dorstfeld reduzieren. Rechtsextremismus, Antisemitismus und andere Formen der Abwertung betreffen nach Kurtenbach alle Stadtteile und viele Milieus. Präventionsarbeit müsse deshalb als Querschnittsaufgabe verstanden werden.

Grafik/Tabelle: FH Münster

Dazu gehört, Zivilgesellschaft langfristig zu stärken, damit sie auch dann handlungsfähig bleibt, wenn kommunale Haushalte enger werden oder politische Mehrheiten sich verschieben. Kurtenbach plädiert im Podcast dafür, dass sich Kitas, Schulen, Vereine, Beratungsstellen und Einrichtungen in den Quartieren das Thema Demokratie ausdrücklich zu eigen machen. Gleichzeitig brauche es neue und gezielte Formate – für Antisemitismusprävention in der pluralen Einwanderungsgesellschaft und für politische Bildung in der demografischen Mitte, die bislang kaum im Fokus steht.

Der überarbeitete lokale Aktionsplan soll auf diesen Erkenntnissen aufbauen und Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik erneut eng verknüpfen. Nach Abschluss der Datenauswertung will die Stadt gemeinsam mit einem Redaktionsteam aus engagierten Dortmunder*innen konkrete Maßnahmen entwickeln. Ziel ist ein Aktionsplan, der die gewachsene Vielfalt der Stadt ernst nimmt und demokratische Resilienz in der Breite stärkt.


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