
Von Horst Delkus
Vielleicht war es der eintönige Bürojob, vielleicht die Abenteuerlust oder jugendlicher Leichtsinn – irgendetwas trieb den erst 20-jährigen Heinrich Horstmann dazu, Familie, Freunde und Heimat hinter sich zu lassen, um mit dem Fahrrad die Welt zu umrunden. Offiziell war es eine Wette: Ohne Geld losfahren, nach zwei Jahren mit 5.000 Mark zurückkehren und 20.000 Mark Wettgewinn einstreichen – damals ein Vermögen.
Das Fahrrad für die Weltumrundung wurde in Dortmund gefertigt
Am 2. Mai 1895 brach Horstmann in Dortmund auf. Eine Weltreise per Fahrrad war zu jener Zeit eine Sensation. Das Fahrrad setzte sich gerade erst als Verkehrsmittel und Sportgerät durch, befestigte Straßen waren rar, Radwege gab es nicht, und Fernreisen galten als riskant. Viele hielten den jungen Mann für einen Aufschneider.
Mit einem Fahrrad der Dortmunder Nähmaschinen- und Fahrradfabrik W. Stutznäcker machte sich Horstmann auf den Weg – und kehrte nach 27 Monaten gesund zurück. Das war keineswegs selbstverständlich, denn andere hatten solche Reisen mit dem Leben bezahlt.

Bei schönem Wetter startete er an jenem Samstag um 11 Uhr mit nur 16 Kilo Gepäck. In seinen Erinnerungen schrieb er später: „Nach mehrwöchigen Vorbereitungen, die vor allem dem Studium von Landkarten überseeischer Gebiete galten, trat ich nach Abschied von Familie und Freunden meine Reise an. Über Lünen und Camen führte mich der Weg nach Hamm, wo in Heessen meine Wiege stand. Die Heimat musste ich vor der Abreise noch einmal sehen – dann ging’s in die weite Welt.“ Der Start verlief unspektakulär, Presseberichte fehlen. Lediglich eine Ankündigung für einen Vortrag zwei Wochen zuvor im „Kölnischen Hof“ am Markt ist überliefert: „Morgen Abend 8½ Uhr wird Herr Heinrich Horstmann aus Barmen im Köln. Hof über seine Reise um die Erde auf dem Zweirad ohne Geld infolge einer Wette sprechen. “
„Ein windiges Herrchen“ ?
Doch viele hielten ihn für einen Betrüger. Ein Blatt schrieb: „Ein windiges Herrchen scheint Herr Horstmann zu sein, der kühn auf dem Stahlrad um die Welt fahren wollte. “ Die „Illustrirte Allgemeine Radfahrer-Zeitung“ berichtete von einem seiner Vorträge: „[Er sagte], er könne heute nichts berichten, ihm ginge es nur um das Eintrittsgeld. Wenn er wiederkäme, wisse er mehr zu erzählen.“

Der Vortrag dauerte 15 Minuten, ein bepacktes Fahrrad wurde gezeigt – es gehörte jedoch noch der Fabrik, die einen Wächter daneben stellte. Der Bericht erschien unter der rufschädigenden Überschrift „Ein zweifelhafter Weltumfahrer“.
Horstmanns Reise begann mit der Durchquerung der Niederlande, Belgiens und Englands. Von Southampton aus überquerte er den Atlantik – nicht in der billigen Deckspassage, sondern als einziger Deutscher unter 250 Kabinenpassagieren. In den USA radelte er von New York nach Buffalo, Dortmunds heutiger Partnerstadt.
Ende Oktober schrieb er von dort an den Dortmunder General-Anzeiger: „Ihre Zeilen vom 4. Oktober erreichten mich heute früh in Buffalo, wo ich gestern Abend gegen 8 Uhr eintraf. Der zurückgelegte Weg betrug 71 englische Meilen [113 Kilometer!]. Für deutsche Straßen nicht viel, wohl aber für die hiesigen. Das Land jenseits der ‚großen Pfütze‘ hat jämmerliche Straßen, wie ein vom Pflug zerrissener Acker, mit Steinen übersät und bergig, wie man’s bei uns nicht kennt. Es hat mich sehr gefreut, aus der Heimat zu hören, und ich wäre dankbar, wenn Sie mir bald wieder deutsche Zeitungen zuschickten.“
Horstmann in Buffalo: „Ein Paradies der Radfahrer“

In Buffalo, wo ihn der Presse-Radfahrerclub betreute, beeindruckte ihn das elektrische Licht, gespeist aus der Wasserkraft der Niagara-Fälle.
„Ich kam mir vor wie ein Bauer, der zum ersten Mal eine Stadt betritt. Das Licht wird hier nicht nur zur Beleuchtung, sondern auch zur Reklame genutzt – auf so viele Arten, dass eine Beschreibung unmöglich ist.“
Buffalo nannte er ein „Paradies der Radfahrer“ mit über 200 Meilen asphaltierter Straßen, „mehr als jede andere Stadt der Welt“.
Von Buffalo radelte Horstmann nach Chicago, St. Louis, durch Arkansas, Texas, New Mexico und Arizona bis Kalifornien. Dieser Abschnitt war der gefährlichste und anstrengendste. Horstmann folgte der Bahntrasse der Southern Pacific Railway.
Die Radreise von Dortmund um die Welt war auch eine Bierreise
Unterwegs suchte er oft Gasthäuser und Brauereien auf – seine Reise war auch eine Bierreise. In seinem Buch schrieb er: „Auch die Deutsch-Amerikaner verstehen es, einen guten Trunk zu brauen, der dem ‚Münchener‘, ‚Dortmunder‘ und ‚Pilsener‘ nichts nachsteht.“

Von San Francisco fuhr er per Schiff nach Hawaii, dann nach Yokohama, radelte durch den Süden Japans, reiste per Schiff nach China und Indien. Wegen einer Choleraepidemie konnte er Indien nicht durchqueren. Ein norwegischer Kapitän nahm ihn bis Ägypten mit, von dort ging es nach Triest.
Auf dem Heimweg wurde er in Ljubljana, Zagreb und Wien von Radfahrervereinen empfangen – stets begleitet von „Bierreisen“. In Zagreb verlobte er sich mit einer kroatischen Radfahrerin. Ein Bericht aus Zagreb lobt seine Kunststücke auf dem Rad: „Was Herr Horstmann bot, streifte hart an das Halsbrecherische. “
Mit fünf Fahrrädern und wenig Ausrüstung um die Welt

Insgesamt nutzte Horstmann fünf Fahrräder: ein deutsches „Regent“-Rad, drei amerikanische „Crescent“-Räder und ein „Styria“-Rad aus Graz.
Seine Ausrüstung war spartanisch: kein Zelt, kein Schlafsack, nur ein Kompass, ein Entfernungsmesser, Flickzeug, eine Wasserflasche, etwas Proviant und im Wilden Westen Waffen zur Selbstverteidigung. Oft musste er das Rad schieben oder tragen, wenn es Schäden gab.
Von Zagreb fuhr er über Graz, Wien und Salzburg nach München, wo er im Bürgerbräukeller empfangen wurde. Von dort ging es über Düsseldorf nach Barmen, seine Heimatstadt. „Jetzt fehlte nur noch der Schlussstein“, schrieb der Dortmunder General-Anzeiger.

Zwei Wochen später radelte er nach Dortmund zurück und beendete seine Reise mit einem Vortrag im „Kölnischen Hof“. Der Saal war spärlich besucht, der Vortrag lang und voller Anekdoten. Besonders ausführlich schilderte er seine „bierologischen Studien“.
Im September trat er in Berlin auf. Dort hielt er sich kürzer, wie die Presse lobte. Sein angekündigtes Buch erschien später im Selbstverlag. Der Fahrradhistoriker Hans-Erhard Lessing entdeckte das einzige erhaltene Exemplar und veröffentlichte es 2000 mit einer Biografie Horstmanns.
Horstmann wird ein Fahrrad- und Bierhändler
Nach der Reise ließ sich Horstmann in Barmen als Fahrradhändler nieder, später zog er nach Hamburg und schließlich nach Berlin, wo er ein Zigarren- und Weingeschäft eröffnete. Ab 1937 verkaufte er Bier. Am 4. Mai 1945, kurz vor Kriegsende, starb er in Berlin.
Heinrich Horstmann war der erste Deutsche, der die Welt mit dem Fahrrad umrundete – und bis heute der jüngste in der Geschichte.
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