Erinnerung und Austausch am „Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma“

Gadjé Rassismus: Schweigeminute am Ort der Deportation und kulturelles Beisammensein

Norbert Schilf (erster Bürgermeister), Roman Franz (Verband deutscher Sinti und Roma e.V. NRW) und Christiane Gruyters (Bezirksbürgermeisterin Innenstadt-Ost) bei der Kranzniederlegung am Denkmal
Norbert Schilff (Erster Bürgermeister), Roman Franz (Vorsitzender des Landesverbands deutscher Sinti und Roma e.V. NRW) und Christiane Gruyters (Bezirksbürgermeisterin Innenstadt-Ost) bei der Kranzniederlegung am Denkmal. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

„Den Lebenden zur Mahnung, den ermordeten Sinti und Roma zum Gedenken“ steht es in leuchtender Farbe an der Wand hinter dem Gedenkstein an der Weißenburgerstraße Ecke Gronaustraße. Vor dieser Kulisse versammelten sich am „Europäischen Holocaust-Gedenktag für die Roma und Sinti“ circa 90 Menschen, um den ermordeten Sinte:zze und Rom:nja zu gedenken.

Europäischer Holocaust-Gedenktag für ermordete Sinte:zze und Rom:nja

Anlässlich der Ermordung der letzten 4.300 Sint:ezze und Rom:nja in Auschwitz- Birkenau erklärte das Europäische Parlament den 2. August zum „europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma“. Seit 2015 erinnert dieser Tag offiziell an die grauenhafte Massenvernichtung der insgesamt 500.000 Sinte:zze und Rom:nja, die im nazionalsozialistisch besetzen Europa ermordet wurden.

Bereits am 16. Mai 1944 hatte die SS den Versuch unternommen, das von den Nazis genannte „Z*-Lager“ aufzulösen. All jene, die der Mangelernährung, der schweren körperlichen Arbeit oder den Launen der KZ- Aufseher nicht bereits zum Opfer gefallen waren, sollten an diesem Tag endgültig vernichtet werden. Da die Inhaftierten sich mit notdürftig erbauten Waffen aus Blech stark zur Wehr setzen, scheiterte der Versuch.

Um 19 Uhr am 2. August 1944 wurde das Lager ein für alle Mal verriegelt. Trotz wiederholtem Widerstand trieb die SS die verbliebenen Sinti:zze und Rom:nja mit Hilfe von Flammenwerfern und Hunden in die Gaskammern. Spätestens am nächsten Morgen war das Lager leer. Es gab keine Überlebende. Ein Augenzeuge erinnert sich:

„Wir hörten ein furchtbares Geschrei. Die Z* wußten, daß sie in den Tod geschickt werden sollten, und sie schrien die ganze Nacht. Sie waren lange in Auschwitz gewesen. Sie hatten gesehen, wie die Juden an der Rampe ankamen, hatten Selektionen gesehen und zugeschaut, wie alte Leute und Kinder in die Gaskammer gingen. [Und darum] schrien sie.“ – Menashe Lorinczi (Häftling aus Mengeles Zwillingsgruppe)

Der Dortmunder Ostbahnhof: die letzte Station vor Auschwitz- Birkenau

Unter den Toten des 2. und 3. August 1944 waren vermutlich auch Dortmunder Sinti:zze und Rom:nja. Der ehemalige Dortmunder Ostbahnhof wurde Anfang März 1943 zur Deportation in das Konzentrationslager Ausschwitz- Birkenau genutzt. Mehr als 1000 Jüd:innen und über 150 Sinti:zze und Rom:nja aus Dortmund und Umgebung sollten die Bedeutung der Metapher „Todesfabrik“ am eigenen Leib erfahren.

Das Wandbild von Anna Hauke erinnert seit 2021 zusätzlich zum Gedenkstein an die Deportation der Sinti:zze und Rom:nja
Das Wandbild von Anna Hauke erinnert seit 2021 zusätzlich zum Gedenkstein an die Deportation der Sinti:zze und Rom:nja. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

In unmittelbarer Nähe der Eisenbahnbrücke wurde 55 Jahre später das Mahnmal errichtet. Der Gedenkstein trägt die Inschrift: „Vom ehemaligen Ostbahnhof aus, dessen Gelände sich früher in unmittelbarer Nähe befand, wurden am 9. März 1943 Sinti und Roma aus Dortmund und Umgebung in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert.
Zum ehrenden Gedenken an die Ermordeten und den Lebenden zur Mahnung, stets rechtzeitig der Unmenschlichkeit entgegenzutreten.“

Im Jahr 2021 wurde der Gedenkstein durch ein großes Wandbild ergänzt, um dem Mahnmal mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In Abstimmung mit dem Landesverband NRW der deutschen Sinti und Roma fertigte das Bündnis Dortmund gegen Rechts (BDgR) einen Entwurf an. Die künstlerische Ausgestaltung und Umsetzung übernahm die Dortmunder Künstlerin Anna Hauke.

Gedenkveranstaltung am Mahnmal für Dortmunder Sinte:zze und Rom:nja

An der Veranstaltung zum Gedenken der ermordeten Dortmunder Sinti:zze und Rom:nja nahmen rund 100 Menschen teil.
An der Veranstaltung zum Gedenken der ermordeten Dortmunder Sinti:zze und Rom:nja nahmen rund 100 Menschen teil. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

Um an die Grausamkeiten der Vergangenheit zu erinnern und auf die Problematiken der Gegenwart aufmerksam zu machen, veranstaltete das Bündnis Dortmund gegen Rechts (BDgR) zusammen mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma e.V. NRW eine Gedenkveranstaltung und Kunstaktion.

Neben der Rede des ersten Bürgermeisters der Stadt Dortmund, Norbert Schilff, hielt auch Roman Franz, erster Vorsitzender des Verbands deutscher Sinti und Roma e.V. NRW einen Redebeitrag, der die andauernde Diskriminierung im Alltag der Sinti:zze und Rom:nja thematisierte.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Ula Richter vom Bündnis Dortmund gegen Rechts, die in ihrem Redebeitrag die Bilder und Lebensgeschichte des Malers Otto Pankok vorstellte. Dieser porträtierte befreundete Düsseldorfer Sinti:zze und Rom:nja vor und nach dem Aufenthalt in Konzentrationslagern. Vier der insgesamt etwa sechstausend Kohlezeichnungen wurden im Rahmen der Gedenkveranstaltung ausgestellt.

„Den Weißen sind wir nicht Menschen ihrer Art, weil wir anders sind. Sie treiben uns über die ganze Welt.“ – in „Verlorene Welt“ von Ilija Jovanovic

Tirzah Haase trägt Gedichte von Ilija Jovanovic und Ceija Stojka vor. Rechts neben ihr eine Kohlezeichnung von Otto Pankok
Tirzah Haase trug Gedichte von Ilija Jovanovic und Ceija Stojka vor. Rechts neben ihr eine Kohlezeichnung von Otto Pankok. Carolin Ulrich | Nordstadtblogger

Nach der eindrucksvollen Lesung zweier Gedichte der Sinti und Roma Autor*innen Ilija Jovanovic und Ceija Stojka durch die Schauspielerin Tirzah Haase folgte eine Schweigeminute.

Im Anschluss daran legten die Bezirksbürgermeisterin Christiane Gruyters (Grüne), der Vorsitzende des NRW-Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma e.V. Roman Franz und Bürgermeister der Stadt Dortmund Norbert Schilff (SPD) die Blumenkränze vor dem Gedenkstein ab.

Abschließend hielt Helmut Manz, ebenfalls vom Bündnis Dortmund gegen Rechts, eine ergreifende Rede, die die Grausamkeit und Brutalität der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 veranschaulichte. Musikalisch begleitet wurde die Gedenkveranstaltung von den Musikern David Oriewskij und Bernd Rosenberg.

Laut Studie lehnen rund 60 Prozent Sinti und Roma ab

Die im Jahr 2021 entstandene Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) veröffentlichte im Juli diesen Jahres einen ersten Lagebericht. Die ersten Erkenntnisse schockieren. Rund 60 Prozent der deutschen Bevölkerung lehnt Sinti und Roma als Nach­ba­r:in­nen und Ar­beits­kol­le­g:in­nen ab, erklärte Guillermo Ruiz, Projektleiter der MIA der taz.

Der Roma-Verein Romano Than organisierte mit der EDG eine Müllsammelaktion rund um den Nordmarkt – eine von vielen Aktionen der Roma-Community in Dortmund.. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Die MIA konzentriert sich zur Zeit vor allem auf Diskriminierung gegen aus der Urkraine flüchtende Sinti:zze und Rom:nja. Eben diese unmenschliche Differenzierung von Flüchtenden thematisierte Norbert Schilff entschlossen im Zuge der Gedenkveranstaltung.

Berichten zufolge würde flüchtenden Sinti:zze und Rom:nja der Zutritt zu den Zügen und die Zuflucht nach Polen verwehrt, so Schilff. „Im Vordergrund steht immer der Mensch, nie eine Ideologie“, äußerte er in Bezug auf die Notsituation der Geflüchteten.

Deutschland habe eine historsche Verantwortung und erschwere die Vermittlung von geflüchteten Sinti:zze und Rom:nja, indem die oft großen Familien bei der Ankunft getrennt werden sollen. Dabei sei es „egal, ja sogar scheißegal“ ob eine flüchtende Familie aus zwei, drei oder vier Personen bestünde, merkte Schilff energisch an.

Roman Franz, Vorsitzende des Landesverbands deutscher Sinti und Roma e.V. NRW, wies in seiner Rede auf die immer noch andauernde Angst einiger Sinti:zze und Rom:nja vor einem Outing hin. Auch der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, beobachtet eine solche Tendenz. Gegenüber der taz erklärte er, das Flüchten in die Anonymität und verheimlichen der Abstammung aus Furcht vor Diskriminierung und Gewalt führe zu einer Unsichbarkeitmachung der Kultur. Dies gilt es zu verhindern.

Ein offener Austausch: Kulturelles Beisammensein im Biercafé West

Gilda Horvath vom Verein European Roma Institute for Arts and Culture e.V. (ERIAC) im Biercafé West
Gilda Horvath vom Verein European Roma Institute for Arts and Culture e.V. (ERIAC) im Biercafé West. Paulina Bermúdez | Nordstadtblogger

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung lud die Stadt Dortmund unter dem Motto „Heu men hi“ zu einem kulturellen Beisammensein in das Biercafé West ein. Etwa 50 Menschen folgten der Einladung. Neben einem Buffet, jeder Menge Getränke und feierlicher Musik stand die Kultur im Mittelpunkt.

Nach einer Begrüßung durch Stadtdirektor Jörg Stüdemann ergriffen Gilda Horvath vom Verein European Roma Institute for Arts and Culture e.V. und Roxanna-Lorraine Witt, 2. Vorsitzende des Vereins „save space e.V.“, das Wort. Im Dialog thematisierten die beiden Frauen ihre Erfahrungen. So habe Roxanna- Lorraine Witt sich beispielsweise als Kind für ihre Großmutter geschämt, die eine Scheibe Brot mit Butter in Windeseile verschlang. Heute weiß sie, wenn Hunger lange genug ein ständiger Begleiter ist, schmeckt eine einfache Scheibe Brot wie ein Stück Kuchen.

Um allen anwesenden Personen die Geschichte der Sinti:zze und Rom:nja nahezubringen, hatte die 15-jährige Maria einen kurzen Vortrag vorbereitet. Gegen Ende berichtete auch sie sichtlich aufgewühlt von starker Diskriminierung in ihrem Alltag. Ihre Mitschüler:innen hätten starke Vorbehalte und würden behaupten, Rom:nja seien kriminell und obdachlos.

Andauernder Kampf gegen Diskriminierung

Roxanna-Lorraine Witt (rechts) lud zur Gadjé-Beratung ein.
Roxanna-Lorraine Witt (rechts) bietet unter anderem „Gadjé-Beratungen“ an und klärt dabei über Missverständnisse und Vorurteile auf. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

„Der Kampf gegen Antiziganismus kann nicht nur auf den Schultern derer liegen, die ihm auch ausgesetzt sind“, betont Roman Franz. Aus seinem Redebeitrag wird klar, um (institutionelle) Diskriminierung und Ressentiments zu bekämpfen, braucht es mehr als nur die entschlossenen Bemühungen der Betroffenen.

Der Vorsitzende der MIA, Guillermo Ruiz, fordert daher ein stärkeres Engagement gegen Antiziganismus von der Bundesregierung. Er rät im Gespräch mit der taz, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) sollte erweitert werden, damit es als Instrument gegen antiziganistische Vorfälle in allen staatlichen Institutionen genutzt werden kann.

Um Rassismus aus unserem Alltag zu verbannen, muss er offen benannt und thematisiert werden. Alle Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft und ihre Institutionen sind gefragt.

Erfolgreiches Projekt an Dortmunder Grundschulen

Gast des kulturellen Beisammenseins ist auch der 20-jährige engagierte Rom Gyultekin. Er arbeitet seit sechs Monaten an einer Grundschule in Mengede als Roma-Bildungsmediator von „Vast vasteste – Hand in Hand in NRW“ . Neben der Schulbegleitung von Sinti- und Roma-Kindern unterstützt er auch die Familien, beispielsweise beim Ausfüllen von Anträgen. Stolz berichtet er von einem Triumph der vergangenen Wochen: er konnte einer Familie erfolgreich bei der Wohnungssuche helfen.

Im Umgang mit Diskriminierung erklärt er, oft prägen Eltern die Vorurteile der Kinder. Um diesen entgegenzuwirken sucht er offen das Gespräch. Sowohl Eltern, als auch Kindern gegenüber outet er sich als Roma und berichtet von seiner Kindheit, die auch von Diskriminierung geprägt war. Sich miteinander auseinandersetzen ist Gyultekin sehr wichtig.

Er merkt, der Austausch hilft, Vorbehalte zu überwinden, sowohl von Kindern, als auch von Erwachsenen. Sind diese Barrieren erst einmal aus dem Weg geräumt, ist ein Ausbrechen aus der „für Sie haben wir leider keinen Arbeits-, Kita-, Schul- oder Wohnungsplatz“ Spirale endlich möglich.

Unterstütze uns auf Steady
Print Friendly, PDF & Email

Reaktion schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert