Scharfe Kritik an ,Düsseldorfer Erklärung‘: „Das Gemeinwohl und die Vielfalt unserer Städte werden unterwandert“

Luftbild Nordstadt

Wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? Über die Entwicklung des Städtebaurechts ist ein Streit entbrannt. „Das Baurecht jetzt anpassen“, fordert(e) der BDB.NRW (Bund Deutscher Baumeister NRW) und unterzeichnete die Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht – aus ihrer Sicht – ein dringender Aufruf zur Reform der städtebaulichen Gesetzgebung. Denn „Nichts ist erledigt!“, heißt es in der Düsseldorfer Erklärung vom Mai 2019, die nach Aufruf des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst am 24. Juni 2019 durch den BDB.NRW im Baukunstarchiv NRW in Dortmund unterzeichnet wurde. Dagegen regt sich massiver Widerstand.

Deregulierung führt zum Rückgang kommunaler Steuerung und Qualitätsverlust in Quartieren

„Die ,Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht‘ vom Mai 2019 zielt auf sogenannte ,schöne, lebensfähige‘ Stadtquartiere und setzt dabei auf Deregulierung“, kritisieren jetzt 50 Professorinnen und Professoren der Architektur, der Stadt- und Regionalplanung, der Stadt- und Architekturtheorie, der Freiraumplanung, der Architektursoziologie, des Planungsrechts und des Städtebaus.

„Die Verfasser haben übersehen, dass dies das Gemeinwohl und die Vielfalt unserer Städte unterwandert, und dass der Rückgang kommunaler Steuerung am Ende einen Qualitätsverlust unserer Stadtquartiere zur Folge haben würde“, heißt es in einem jetzt veröffentlichten Appell.

Prof. Christa Reicher (TU Dortmund)
Prof. Christa Reicher. Archivfotos (2): Alex Völkel

Sie widersprechen und appellieren an die Entscheidungsträger von Bund, Ländern und Kommunen, die Düsseldorfer Erklärung kritisch zu hinterfragen.

Denn die Erklärung „ruft eine traditionelle, „schöne“ Retortenstadt aus, die es in dieser Reinform nie gegeben hat, und die auf zukünftige Herausforderungen für eine soziale und funktionale Mischung keine Lösungen bietet. Sie negiert und behindert mit diesem einseitigen Blick in die Vergangenheit alle Forschungsansätze für ein zeitgemäßes städtebauliches Repertoire“, so die KritikerInnen.

Für Prof. Christa Reicher ist die „Düsseldorfer Erklärung“  daher eine „reaktionäre Erklärung, die Tür und Tor für eine rein renditeorientierte Stadtentwicklung öffnet“, betont die ehemalige Dortmunder Professorin, die jetzt das Institut für Städtebau und europäische Urbanistik, an der  RWTH Aachen leitet.


Redaktioneller Hinweis: Um diese – auch stadtgesellschaftlich – wichtige Diskussion zu bereichern und auch den KritikerInnen entsprechenden Raum zu geben, hat sich die Nordstadtblogger-Redaktion dazu entschlossen, den Widerspruch in voller Länge zu veröffentlichen.


Der Widerspruch im Wortlaut:

Die „Düsseldorfer Erklärung zum Städtebaurecht“ vom Mai 2019 zielt auf sogenannte „schöne, lebensfähige“ Stadtquartiere und setzt dabei auf Deregulierung. Die Verfasser haben übersehen, dass dies das Gemeinwohl und die Vielfalt unserer Städte unterwandert, und dass der Rückgang kommunaler Steuerung am Ende einen Qualitätsverlust unserer Stadtquartiere zur Folge haben würde: Ein Widerspruch.

Wir appellieren an die Entscheidungsträger von Bund, Ländern und Kom- munen, die Düsseldorfer Erklärung kritisch zu hinterfragen:

1. Die Forderungen zur Reform der Baunutzungsverordnung bilden die schwie- rige Lage einiger weniger Großstädte unter Wachstumsdruck ab. Dabei wird ausgeblendet, dass das Planungsrecht für alle Städte, also auch für Städte mit stagnierender oder zurückgehender Bevölkerung, wie auch für ländliche Räume in ganz Deutschland gelten – und deren ausgewogene Entwicklung sicherstellen muss.

2. Die Forderung nach Abschaffung von Dichteobergrenzen ist ein Aufruf zu Deregulierung und befeuert damit die aktuelle Bodenspekulation – dies in einer Situation, in der wir mehr denn je Steuerungsinstrumente benötigen, um die aus den Fugen geratenen Boden- und Wohnungsmärkte zu beruhigen.

3. Die Leipzig Charta wird einseitig und ideologisch ausgelegt, um eine bestimmte Städtebau-Typologie zu forcieren. Dies steht im Widerspruch zur Leipzig Charta, die einen Hauptfokus auf benachteiligte Stadtquartiere im gesamtstädtischen Kontext legt.

4. Mit der Reduzierung städtebaulicher Qualitäten auf einen traditionellen, an der Gründerzeit orientierten Stadttypus werden andere gewachsene Bestandsquartiere entwertet und die Menschen, die in ihnen leben, ausgegrenzt. Dies entzweit unsere Stadtgesellschaften.

Wir widersprechen der Düsseldorfer Erklärung in ihren Grundzügen und fordern stattdessen:

Keine weitere Deregulierung!

Eine Hauptforderung der Düsseldorfer Erklärung besteht in der Abschaffung der Dichteobergrenzen, die in §17 der Baunutzungsverordnung (BauNVO) festgesetzt sind. Diese Deregulierung der Dichte hätte enorme immobilienwirtschaftliche Konsequenzen. Bodenspekulation und Bodenpreise würden unmittelbar und noch stärker ansteigen als bisher, und den Kommunen würde gleichzeitig eine wesentliche Verhandlungsgrundlage entzogen. Folglich würden Grundeigentümer mit leistungslosen Gewinnen belohnt, während die öffentliche Hand allein die Kosten für die Anpassung von Infrastruktur und Wohnfolgeeinrichtungen aufbringen müsste. Die Aufhebung städtebaulicher Dichtegrenzen – ohne Anpassung des bodenpolitischen Instrumentariums – käme damit einer weitgehenden Deregulierung des Bodenmarktes und dem Verlust kommunaler Steuerung gleich.

Eine Baunutzungsverordnung für das ganze Land und alle Städte!

Die Düsseldorfer Erklärung ist eine Großstadtstrategie. Sie spiegelt die Sichtweise und Problemlagen von einigen wenigen Großstädten unter Wachstumsdruck wider und vergisst dabei, dass das Planungsrecht überall in Deutschland gelten und also auch die Bedürfnisse von Vororten, Kleinstädten und ländlichen Räumen abbilden muss. Das Planungsrecht muss wertneutral für alle Strukturräume und Bautypologien gelten, und es muss dabei auch den unterschiedlichen Lebensentwürfen und Wohnbedürfnissen der Menschen gerecht werden. Eine fachliche Überprüfung der Düsseldorfer Erklärung zeigt zudem, dass zahlreiche Forderungen im Rahmen der derzeitigen BauNVO bereits erfüllt sind.

Keine Instrumentalisierung der Leipzig Charta!

Die Leipzig Charta für die nachhaltige europäische Stadt verfolgt eine Sektoren über- greifende und sozial integrierte Stadtentwicklung mit einem Fokus auf benachteiligte Stadtquartiere im gesamtstädtischen Kontext. Sie ist damit ein Plädoyer für die Vielgestaltigkeit unserer Städte und wendet sich explizit gegen die Ausgrenzung einzelner Stadtquartiere oder Stadtbau-Typologien – im Gegensatz zur Düsseldorfer Erklärung, die nur Qualitäten in bestimmten, am traditionellen Städtebau der Gründerzeit orientierten Quartieren sieht. Die Düsseldorfer Erklärung legt die Leipzig Charta damit bewusst falsch aus, und versucht ihre Ziele mit Scheinargumenten zu legitimieren.

Gegen einen dogmatischen, historisierenden Städtebau!

Die Düsseldorfer Erklärung ruft eine traditionelle, „schöne“ Retortenstadt aus, die es in dieser Reinform nie gegeben hat, und die auf zukünftige Herausforderungen für eine soziale und funktionale Mischung keine Lösungen bietet. Sie negiert und behindert mit diesem einseitigen Blick in die Vergangenheit alle Forschungsansätze für ein zeitgemäßes städtebauliches Repertoire. In Zukunft wird – im Gegensatz zu dem vornehmlich aufformalen Aspekten beruhenden, historisierenden Städtebau – die Auseinandersetzung mit wandelbaren hybriden Gebäuden und Strukturen für die produktive Stadt an Bedeutung gewinnen. An vielen Hochschulen ist dies bereits Gegenstand einer forschenden Lehre im Sinne einer sozial- und nutzungsdurchmischten Stadt der Zukunft.

Für eine umfassende Baukultur!

In der Leipzig Charta wird Baukultur in einem umfassenden Sinne definiert, als Gesamtheit aller die Qualität des Planens und Bauens beeinflussenden kulturellen, ökonomischen, technischen, sozialen und ökologischen Aspekte. Ganz im Gegenteil zur Düsseldorfer Erklärung, die Baukultur auf bauliche Themen reduziert, diese mit einem dogmatischen Städtebau koppelt und behauptet, dies stünde im Einklang mit der Leipzig Charta. Für die Stärkung des Bewusstseins der vielfältigen Aspekte, die den Prozess des Planens und Bauens und dessen Qualität bedingen, wurde eigens die Bundesstiftung Baukulturgegründet. Wir sind entschieden gegen die eingeengte Definition von Baukultur der Düsseldorfer Erklärung.

Zusammenfassung

Die Düsseldorfer Erklärung des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst zielt vor allem auf eine Reform der Baunutzungsverordnung (BauNVO), der wir in der vorgeschlagenen Form kritisch gegenüberstehen. Sie verbindet diese Reform mit einem dogmatischen, historisierenden Städtebau, den wir in der vorgetragenen Ausschließlichkeit ablehnen. Und sie begründet diese Haltung mit einer einseitigen Auslegung der Leipzig Charta für die nachhaltige europäische Stadt. Wir widersprechen diesem Papier entschieden, in dem es Tendenzen zu Populismus gibt und das zur Deregulierung aufruft!

Gleichwohl sehen auch wir Bedarf für eine Reform des Planungsrechts – insbesondere desbodenpolitischen Instrumentariums – und in einigen wenigen Teilen auch der Baunutzungsverordnung. Dies muss allerdings im Zusammenhang geschehen und nicht mit einem Handstreich zur Abschaffung der Dichteobergrenzen: Die Debatte ist eröffnet!

  • Prof. Dr.-Ing. Sabine Baumgart
    Professorin für Stadt- und Regionalplanung, TU Dortmund [bis 2018]
  • Prof. Dr. Detlef Kurth
    Professor für Stadtplanung, TU Kaiserslautern
  • Hon.-Prof. Martin zur Nedden
    Institutsleiter des DIFU a.D. und Professor für Stadtentwicklung und Regionalplanung, HTWK Leipzig
  • Prof. Christa Reicher
    Leiterin des Instituts für Städtebau und europäische Urbanistik, Professorin für Städtebau und Entwerfen, RWTH Aachen University
  • Prof. Stefan Rettich
    Professor für Städtebau, Universität Kassel
  • Hon.-Prof. Dr.-Ing. e.h. Christiane Thalgott
    Stadtbaurätin München a.D. und Professorin für Strategie und Umsetzung in der städtebaulichen Planung, TU München
  • Prof. Yasemin Utku
    Professorin für Städtebau und Planungspraxis, TH Köln

Der Bericht zur Unterzeichnung der Düsseldorfer Erklärung durch den BDB:

Daniela Schneckenburger ist neue Dezernentin für Schule, Jugend und Familie der Stadt Dortmund

WEITERE UNTERZEICHNER*INNEN des Widerspruchs:

  • RWTH AACHEN
    Prof. Dr. Frank Lohrberg, Professor für Landschaftsarchitektur
    Prof. Dr. Carola S. Neugebauer, Professorin für kulturelles Erbe
  • FH AACHEN
    Prof. Stefan Werrer, Lehrgebiet Städtebau
    Prof. Annelie Klasen-Habeney, Lehrgebiet Städtebau
  • TU BERLIN
    Prof. Dr. Angela Million, Professorin für Städtebau und Siedlungswesen
    Prof. Dr. Philipp Misselwitz, Professor für Städtebau und Internationale Urbanistik
    Prof. Dr. Mitschang, Professor für Orts-, Regional- und Landesplanung
    Prof. Elke Pahl-Weber, Professorin für Bestandsentwicklung und Erneuerung von Siedlungseinheiten
  • UDK BERLIN
    Prof. Markus Bader, Professor für Entwerfen und Gebäudeplanung
  • HS BIBERACH
    Prof. Ute Meyer, Professorin für Städtebau und Entwurf
  • HS BOCHUM
    Prof. Ulrike Beuter, Professorin em. für Landschaftsarchitektur
  • HS BREMEN
    Prof. Dr. Eberhard Syring, Professor für Baugeschichte und Architekturtheorie
    Prof. Dr. Christian von Wissel, Professor für Stadttheorie
  • BTU COTTBUS
    Prof. Inken Baller, Professorin em. für Entwerfen und Bauen im Bestand
  • TU DARMSTADT
    Prof. Dr. Nina Gribat, Professorin für Entwerfen und Städtebau
  • Prof. Tom Sieverts, Professor em. für Städtebau und Siedlungswesen
  • FH DORTMUND
    Prof. Christian Moczala, Professor für städtebauliches Entwerfen
  • TU DRESDEN
    Prof. Melanie Humann, Professorin für Urbanismus und Entwerfen
  • UNI DUISBURG-ESSEN
    Prof. Dr.-Ing. M. Arch J. Alexander Schmidt, Professor em. für Stadtplanung und Städtebau
  • HS ERFURT
    Prof. Dr. habil. Nicolai Roskamm, Professor für Planungstheorie, Stadtbaugeschichte und nachhaltiger Städtebau
    Prof. Dr. Heidi Sinnig, Professorin für Stadtplanung und Kommunikation
  • Prof. Dr. Reinold Zemke, Professor für Planungsrecht und Projektentwicklung
  • FUAS FRANKFURT
    Prof. Dr. Maren Harnack, Professorin für Städtebau und Entwerfen
    Prof. Dr. Michael Peterek, Professor für Städtebau und Entwerfen
  • HCU HAMBURG
    Prof. Dr. Jörg Knieling, Professor für Stadtplanung und Regionalentwicklung
  • LU HANNOVER
    Prof. Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung
    Prof. Dr. Hille von Seggern, Professorin em. für Freiraumplanung, Entwerfen und städtische Entwicklung
  • TU KAISERSLAUTERN
    Prof. Dr. Holger Schmidt, Professor für Stadtumbau und Ortserneuerung
  • UNI KASSEL
    Prof. Christel Drey, Professorin em. für Städtebau
    Prof. Philipp Oswalt, Professor für Architekturtheorie und Entwerfen
  • Prof. Ariane Röntz, Professorin für Landschaftsarchitektur I Entwurf
  • FH MÜNSTER
    Prof. Joachim Schultz-Granberg, Professor für Städtebau
  • HS OSNABRÜCK
    Prof. Dr. Johanna Schoppengerd, Professorin für Stadtplanung und Planungsrecht
  • TH OSTWESTFALEN-LIPPE
    Prof. Martin Hölscher, Professor für Städtebau, Stadt- und Regionalentwicklung
    Prof. Kathrin Volk, Professorin für Landschaftsarchitektur und Entwerfen
  • UNI SIEGEN
    Prof. Dr. Thorsten Erl, Professor für Städtebau
    Prof. Dr. Hilde Schröteler-von Brandt, Professorin für Städtebau
  • HFT STUTTGART
    Prof. Dr. Christina Simon-Philipp, Professorin für Städtebau und Stadtplanung
  • UNI STUTTGART
    Prof. Dr. habil. Christine Hannemann, Professorin für Architektur- und Wohnsoziologie
  • BU WEIMAR
    Prof. Dr. Barbara Schöning, Professorin für Stadtplanung
  • TU WIEN
    Prof. Rudolf Scheuvens, Professor für Örtliche Raumplanung und Stadtentwicklungsplanung
  • HS WIESBADEN
    Prof. Volker Kleinekort, Professor für Städtebau
  • BU WUPPERTAL
    Prof. Klaus Overmeyer, Professor für Landschaftsarchitektur
    Prof. Dr. Tanja Siems, Professorin für Städtebau und Leiterin des Institut für Umweltgestaltung
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