Kundgebung macht auf die Wintersituation von Wohnungs- und Obdachlosen aufmerksam

Anlässlich des internationalen Tags der Armut am 17. Oktober:

Zelt auf der Kundgebung, das demonstrativ aufgebaut wurde, um auf die Situation obdachloser Menschen im Winter aufmerksam zu machen.
Der 17. Oktober gilt seit 1992 offiziell als Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Seit über 30 Jahren gilt der 17. Oktober offiziell von den Vereinten Nationen als Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut. Seither finden an diesem Tag jährlich Kundgebungen statt, um auf die Situation armutsbetroffener Menschen, insbesondere derer auf der Straße, aufmerksam zu machen. Auch in diesem Jahr haben in Dortmund Initiativen zu einer Kundgebung aufgerufen.

Auch nach 30 Jahren: Aufmerksamkeit für Ungerechtigkeit bewahren

Der Winter rückt immer näher und damit auch die Sorge vieler Wohnungs- und Obdachloser über die Überwinterung auf der Straße. Was Bürger:innen abseits der Straße oft nicht im Blick haben, darauf wollten das Gast-Haus, die Kana-Suppenküche, der Malteser-Herzensbus und bodo wie seit Jahren in Form einer Kundgebung in der Dortmunder Innenstadt aufmerksam machen.

Colin Fischer am Mikrofon auf der Kundgebung.
Colin Fischer engagiert sich bei der Kana-Suppenküche. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

„Es ist wichtig, darauf hinzuweisen und auch laut zu werden, um den Ursachen von Armut und Ungleichverteilung etwas entgegenzusetzen“, mahnt Colin Fischer von der Kana-Suppenküche auf der Kundgebung an.

Zwar habe sich laut Fischer der Inhalt der Veranstaltung nach über 30 Jahren nur geringfügig verändert, was er bedauere, dennoch sei es wichtig, weiterhin mit der jährlichen Kundgebung auf die Thematik aufmerksam zu machen.

„Die Kana-Suppenküche geht auf eine US-amerikanische Bewegung zurück, die sich Catholic Worker nennt. Eine der Gründerinnen dieser Bewegung, Dorothy Day, hat einen Satz gesagt, der uns bis heute als Leitsatz dient: Wir müssen unsere Stimme gegen Ungerechtigkeit erheben oder ihr durch unser Schweigen zustimmen. Und genau das wollen wir nicht tun. Wir wollen nicht der Ungerechtigkeit zustimmen, die auf der Welt, aber auch hier in unserem Land herrscht“, so Fischer.

Kritik an nationaler Sozialpolitik und Bürgergeld-Debatte

Besonders das aktuelle politische Klima geriet mit Blick auf die Wohnungs- und Obdachlosenhilfe unter der Kritik.  „Wir werden auf allen Kanälen mit schlechten Nachrichten aus aller Welt überflutet und erleben gleichzeitig eine deutliche Diskursverschiebung nach rechts – hin zu neoliberaler und rechter Hetze“, sagte er.

Hände, die das Essen aus dem Foodtruck überreichen.
Der Malteser-Wärmebus lud verteilte kostenloses Essen an alle Besucher:innen. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Sätze, die heute öffentlich geäußert würden, wären früher undenkbar gewesen. Dabei wurde die aktuelle Diskussion um das Bürgergeld als Beispiel herangezogen. Zum Hintergrund:

In der Bundesregierung wird derzeit darüber debattiert, das Bürgergeld abzuschaffen und durch eine strengere „Grundsicherung“ mit härteren Sanktionen und geringerem Schonvermögen zu ersetzen. Im ersten Jahr werden aktuell noch die vollen Mietkosten übernommen. „Jens Spahn fordert, dass diese Regelung ersatzlos gestrichen wird. Ein besseres Instrument, um Menschen in die Wohnungslosigkeit zu treiben, wäre mir auch nicht eingefallen“, kritisierte Fischer.

Statt über die Folgen solcher Kürzungen zu sprechen, werde über vermeintlichen Missbrauch debattiert, während unzählige Menschen durch verschwendete Steuergelder – etwa bei Maskendeals – hätten unterstützt werden können, fügt Fischer hinzu.

Neulich gewählter OB gerät ebenfalls unter Kritik der Veranstalter:innen

Auch Dortmund selbst geriet unter die Kritik der Veranstalter:innen hinsichtlich des Umgangs mit der Lage von Wohnungs- und Obdachlosen. „Höhere Strafen gegen bettelnde Menschen, die Verlegung des Drogenkonsumraums aus der Innenstadt – das sind die Themen, mit denen der neu gewählte Oberbürgermeister Alexander Kalouti Wahlkampf gemacht hat. Wohlgemerkt entgegen dem Rat von Expert:innen, die sich intensiv mit dem Thema und den betroffenen Menschen auseinandersetzen“, kritisierte Fischer.

Tisch auf dem die Teller und Besser stehen.
Besonders viele Bedürftige nahmen das kostenlose Essensangebot an. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Zugleich betonte er, dass es unbestreitbar sei, dass Menschen mit Suchtproblemen, die sich in der Öffentlichkeit aufhalten müssen, ein gewisses Konfliktpotenzial mit sich bringen. Aus seiner Sicht lösen jedoch Strafen und Vertreibungen kein Problem, sondern verschieben es nur.

Eine echte Hilfe für Betroffene seien beispielsweise die sofortige Unterbringung wohnungsloser Menschen, engmaschige Therapie- und Betreuungsangebote für Menschen mit Suchterkrankungen sowie die Schaffung sicherer Räume.

„Das sind Maßnahmen, die das Problem wirklich angehen. Dafür müsste man aber erkennen, dass diese sogenannten Problemfälle auch Menschen sind, die die gleichen Rechte haben wie alle anderen Bürger:innen  in dieser Stadt“, erläuterte Fischer.

Gesellschaftliche Ängste prägen die Diskussion über Armut

Warum genau solche Perspektiven in der Gesellschaft vermehrt Zustimmung finden, führt Fischer auf einen grundsätzlichen Diskurswechsel zurück. Viele Menschen nähmen wahr, dass es wirtschaftlich schlechter gehe, auch wenn sie selbst nicht unmittelbar betroffen seien.

Frauenhände, die auf einem Papier schreiben.
Besucher:innen konnten ihre Wünsche und Anforderungen an die Politik aufschreiben. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

So zeigten beispielsweise Umfragen, dass die Einschätzung, wie schlecht es Deutschland insgesamt gehe, oft sehr hoch ausfalle, während die persönliche Lage als weniger kritisch wahrgenommen werde. „Das passt nicht zusammen und verschiebt die Wahrnehmung von Problemen erheblich“, so Fischer.

Zudem kritisierte er, dass politische Strategien, etwa von Parteien wie der CDU, diesen Trend bedienen würden, um Ängste vor Wohlstandsverlust und Unsicherheit zu verstärken. Damit würden sie indirekt den Aufschwung rechter Parteien begünstigen. Auf diese Weise würden die Ängste sehr wirkungsvoll in der Gesellschaft verbreitet. „Das funktioniert leider sehr gut.“

„Niemand in Deutschland muss auf der Straße leben“ als verbreitete Annahme

Eine besonders häufig verwendete Aussage, die in Diskursen über Wohnungs- und Obdachlosigkeit falle, sei, dass in Deutschland niemand obdachlos sein müsse. Ein irrtümliches Vorurteil, wie Tim Sonnenberg von der Fachhochschule Dortmund findet. Er erläuterte, dass Menschen nicht wohnungslos würden, weil sie Drogen konsumierten oder nicht arbeiten wollten.

Tim Sonnenberg, während er seinen Redebeitrag hält.
Tim Sonneberg forscht unter anderem zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit an der FH Dortmund. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Vielmehr spielten strukturelle Faktoren eine zentrale Rolle, wie Ausbeutung, Armut, Sanktionen vom Jobcenter, Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie Gewalt – insbesondere gegenüber Frauen.

Auch Kinder, Jugendliche und migrantisierte Personen seien häufig von spezifischen Benachteiligungen betroffen. Zudem hob Sonnenberg hervor, dass Wohnungslosigkeit weit über das Fehlen eines Rückzugsorts hinausgehe. Sie bedeute erhebliche Einschränkungen im Alltag, Verlust von Privatsphäre, Hobbys und Selbstbestimmung.

„Menschen, die wohnungslos sind, werden oft nur noch auf ihre Situation reduziert. Sie gelten als selbst schuld und erfahren tägliche Demütigungen, sei es durch das Hilfesystem oder durch die Gesellschaft“, erklärte er.

Veranstalter:innen präsentierten drei zentrale Forderungen für diesen Winter

Für den Winter richteten die Veranstalter:innen den Blick gezielt auf die Situation in Dortmund und formulierten drei zentrale Forderungen. Erstens forderten sie die Abkehr von armutsfeindlicher Politik sowie von Vertreibung und Bestrafung von Menschen in Not, wie sie im aktuellen Wahlkampf teilweise propagiert worden sei.

Frau, die eine aufgeschriebene Wunschäußerung an das Zelt klebt.
Im Anschluss konnten die Besucher:innen die aufgeschriebenen Wünsche an das Zelt kleben. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Zweitens betonten sie die Dringlichkeit eines Sofortprogramms zur Winternothilfe, das bedingungslose Tagesaufenthalte und Übernachtungsmöglichkeiten für Wohnungslose sicherstelle.

„Viele von uns können nachher nach Hause gehen und die Heizung anstellen, viele von uns können das auch nicht. Darum brauchen wir ein Sofortprogramm zur Winternothilfe mit, und das ist uns besonders wichtig: bedingungslose Tagesaufenthalte und Übernachtungsmöglichkeiten. Das ist ein Grundrecht, und das muss bedingungslos sein“, so Fischer.

Drittens forderten die Veranstalter:innen angesichts jüngster Gewalttaten gegen Wohnungslose in Dortmund die Umsetzung eines Schutzprogramms, um Menschen, die auf der Straße leben, besonders zu schützen.


 

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