Nach den deutlichen Lockerungen der Corona-Restriktionen:

Gut besuchte Gedenkveranstaltung in Dortmunder Bittermark erinnert an Opfer der Nazi-Verbrechen

Nach drei Jahren analoger Abstinenz versammelten sich am Karfreitag viele Menschen, um den Ermordeten zu gedenken. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Was viele Dortmunder:innen gestern nach neu gewonnenen Versammlungsfreiheiten in die Bittermark führte, gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Stadtgeschichte: Es geschah in den letzten Wochen vor dem Untergang des NS-Regimes. Unter anderem an jenem Ort, wo heute in dem Hombrucher Stadtwald ein Mahnmal steht. Wie im Rombergpark benutzten die Nazi-Schergen durch alliierte Angriffe entstandene Bombentrichter als Exekutionsstätte und Massengräber. Zwischen dem 7. März und 12. April 1945 ermordete die Gestapo dort an die 300 gefangene Zwangsarbeiter- und Widerstandskämpfer:innen. Heimlich, in aller Frühe, an den Kraterrändern, zumeist durch Genickschuss. – Gestern, wie an jedem Karfreitag seit 1954, wurde an die Opfer erinnert, ihnen gedacht. Auf dass dergleichen Gräueltaten nie wieder geschehen mögen. Doch es gibt sie weiterhin. Heute, hier, in Europa. Und anderswo. Das betonte Bürgermeister Norbert Schilff. Und mahnte Solidarität an, überall dort, wo sie gebraucht wird.

Kernmotiv antifaschistischer Erinnerungsarbeit kommt nicht an Gegenwart vorbei

„Niemals vergessen! Nie wieder Krieg!“ – so lautet das zentrale Motiv jener Antifaschist:innen, die sich (außer in harten Corona-Zeiten) jährlich am Mahnmal in der Dortmunder Bittermark treffen. Zweifel an der Aktualität des Kerngedankens gibt es nicht. Es genügt ein Blick auf die unablässigen Umtriebe Ewiggestriger in der Bundesrepublik, bis hin zum Rechtsterrorismus. Oder in die Ukraine: Menschenverachtung und Verbrechen in einem Maße, dass Wegschauen kaum noch möglich scheint, ohne die eigene Glaubhaftigkeit zu riskieren.

Bürgermeister Norbert Schilff Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Hauptredner der diesjährigen Mahn- und Gedenkveranstaltung in der Bittermark ist Norbert Schilff – seit den letzten Kommunalwahlen 1. Bürgermeister der Stadt sowie Vorsitzender der Gedenkstätte Steinwache und des Internationalen Rombergpark-Komitees. Bekannt dafür, auch bei schwierigen Themen wenig Neigung zu zeigen, unnötig ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

Die dafür ungebetene Steilvorlage kommt am gestrigen Karfreitag aus dem Osten Europas. In der Ukraine tobt seit dem 24. Februar ein eindeutig völkerrechtswidriger Angriffskrieg, eingefangen mit extrem hässlichen Bildern, die um die Welt gehen. Eine massive militärische Konfrontation ist im Gange, losgetreten von Russland.

Denn dessen Führungsetage fühlt sich durch die sukzessive NATO-Osterweiterung der letzten Jahrzehnte bedroht, schließlich wollten die USA so etwas auch nicht vor ihrer Haustür. Und darüber hinaus getäuscht, weil einige westliche Politiker in den Verhandlungen nach dem Fall der Mauer um die zukünftige Polit-Architektur Europas mündlich versichert hatten, dass dies nicht geschehen werde. Ist es aber.

Bürgermeister Norbert Schilff (unter Applaus): Geflüchteten muss überall geholfen werden!

Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Was freilich keinen kriegerischen Überfall rechtfertigen kann – das unermessliche Leid, die Flucht von Millionen, die Zerstörung eines ganzen Landes. Wer am gestrigen Karfreitag wie Norbert Schilff in der Bittermark vor dem Mahnmal den Ermordeten des NS in Dortmund gedachte, konnte davor die Augen kaum verschließen. Denn am Ende des Tages schmecken die Tränen aller Mütter gleich, egal, woher die Opfer kommen oder wer die Täter sind.

Auch deshalb weist Schilff ausdrücklich darauf hin: „Die Hilfsaktionen für die Ukraine und die Menschen dort sind wichtig und großartig. Wir müssen aber auch den Flüchtlingen aus anderen Regionen weiterhin helfen, sie nicht vergessen“ – und erntet spontanen Applaus aus dem Publikum.

Denn solche Worte wirken in einem vorwiegend politisch linken Spektrum bestätigend, wo doch wegen des Krieges gerade althergebrachte Positionen und Haltungen, herrührend aus den 80er Jahren, bedenklich zu wackeln beginnen, etwa in Fragen der Friedenspolitik, die stets ohne Waffen gedacht wurde.

Ein Stück Gerechtigkeit den Opfern: auf dass es nie wieder geschehe

„Ihr Tod war so grausam und ihr Tod war so sinnlos“, sagt Norbert Schilff mit Bezug auf die damals von Gestapo und SS ermordeten Gefangenen. Es seien nicht nur Taten bloßer Willkür gewesen, sondern „sie machten das grauenvolle Wesen des Faschismus aus und offenbarten sein Gesicht.“

Die Frontstellung gegen Unmenschlichkeit braucht das Erinnern. Ohne Gedächtnis keine Zukunft. Nur so kann ein Versprechen eingelöst werden, das der Sozialdemokrat so formuliert: „alles zu tun, dass sich ein solches Unrecht nicht wiederholen wird“. Dadurch, durch das (außer in Corona-Zeiten) jährliche Sich-Versammeln am Karfreitag am Mahnmal, könne den Opfern „ein Stück Gerechtigkeit“ verschafft werden.

Was umgekehrt bedeutet, macht Schilff klar, „Rechtsextremisten und ihren vermeintlichen bürgerlichen Mitläufern keinen Fußbreit Raum“ zu lassen. Ergo: Klare Kante gegen „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“. Dafür kann es in einer Gesellschaft keinen Platz geben, die beansprucht, vielfältig, demokratisch, tolerant – eben menschlich zu sein.

KZ-Überlebender und Antifaschist bei russischem Luftangriff in der Ukraine getötet

Antikriegszeichen in der Bittermark Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Die ganze Widersinnigkeit des Ukraine-Krieges, näherhin die seiner Rechtfertigung, erhellt sich angesichts des Todes eines Antifaschisten und KZ-Überlebenden, des 96-jährigen Boris Romantschenko, bei einem russischen Luftangriff am 18. März. Auch er sei als Zwangsarbeiter während des Krieges in Dortmund gewesen, hatte hier im Bergbau gearbeitet, war in der Steinwache inhaftiert.

Der betagte Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald wurde nun von jenen getötet, deren Ziel es angeblich ist, die Ukraine vom (Neo-)Nazi-Einfluss zu befreien. Doch was bleibt, ist der nackte Imperialismus Moskaus, um nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches verlorengegangenes Terrain wieder gutzumachen.

Dabei schmücken sich die Herren im Kreml mit einem pseudosozialen Gewand, das so gar nicht zu dem Leid der Menschen – hervorgerufen durch ihre massiven kriegerischen Handlungen – in der ehemaligen Sowjetrepublik passen will.

Die meisten Zwangsarbeiter in Dortmund kamen aus der damaligen Sowjetunion

Uta Gerlant moderierte und sprach für MEMORIAL Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Einen etwas peinlichen Ausrutscher leistete sich anfangs Uta Gerlant von MEMORIAL Deutschland e.V., Moderatorin der Veranstaltung. MEMORIAL ist eine Vereinigung, die – im Zuge von Perestroika und Glasnost – Ende der 80er Jahre in Moskau gegründet wurde und mittlerweile zu einem ausgedehnten internationalen Netzwerk geworden ist, das sich in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sowie in Frankreich, der Bundesrepublik und Tschechien für Geschichtsaufarbeitung, Menschenrechte wie soziale Belange einsetzt – und im Februar 2022 in Russland bezeichnenderweise verboten wurde.

Leider datiert Gerlant, immerhin „freie“ Historikern, mit Schwerpunkt Osteuropa, die genannten Endphase-Gräueltaten der Dortmunder Gestapo an den Rändern der Bombenkrater in den südlichen Stadtwäldern Bittermark und Rombergpark gleich um ein Jahr zurück, nämlich auf den Monat März 1944.

Doch gleich, wann es genau geschah – es bleibt festzuhalten: die Opfer waren zumeist sog. „Ostarbeiter:innen“, ein Synonym für sowjetische Zwangsarbeiter:innen. Ausgebeutet, geschunden wurden sie über die Jahre auch in Dortmund. Sie starben infolge von Unterernährung, Erschöpfung, schutzlos an den Westfalenhallen den alliierten Luftangriffen ausgesetzt – oder als Gefangene bei den Karfreitagsmorden in den letzten Kriegswochen.

Gedenkstätten für die Opfer von Zwangsarbeit und NS-Terror

Erst im August 2020 weihte der damalige OB Ullrich Sierau am Phoenix-See in Hörde, nach jahrelangem Druck der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), endlich eine Gedenkstätte für sie alle ein, für die Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Jugoslawien, Polen und der Sowjetunion.

Mahnmal am Phoenix-See Thomas Engel | Nordstadtblogger

Unter den Opfern der Endphaseverbrechen, die kurz vor Kriegsende von den NS-Mördern hingerichtet wurden, kamen die meisten aus ihren Reihen. Häufig gefangengehalten wegen kleinster Vergehen, Opfer von Willkür, Folter. Ausgesetzt der gewissensfreien Brutalität jener Bewacher, die sich irrsinnigerweise als „Herrenmenschen“ fühlten.

In den Wochen vor dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes, im Frühjahr 1945, wurden sie, die Inhafthierten, gruppenweise nach und nach aus ihren Zellen – vor allem in der Steinwache und der Gestapo-Leitstelle in Hörde bzw. dem Hörder Internierungslager – zur Exekution gefahren, häufig gefesselt mit Stacheldraht. Am 30. März 1945, dem Karfreitag, waren es ca. 43 Menschen, die schließlich im Rombergpark erschossen und eilig verscharrt wurden.

Gefangene werden an den Rändern von Bombentrichtern erschossen

Auch auf dieser Lichtung in der Bittermark, wo heute das Mahnmal steht, um das sich alljährlich das demokratische Dortmund versammelt, gab es einen Bombentrichter, an dessen Rand die Nazi-Schergen ihre Oper durch Genickschuss niederstreckten. Doch nachdem die US-Streitkräfte Dortmund am 13. April endlich befreit hatten, dauerte es nicht lange, bis die NS-Verbrechen ans Licht kamen.

Die Krypta im Bittermark-Mahnmal Thomas Engel | Nordstadtblogger

Die nachträgliche Bestattung von 89 der Ermordeten erfolgte nach ihrer Exhumierung am 22. April in einem Gemeinschaftsgrab auf jener Bittermark-Spielwiese, wo in dem zugeschütteten Bombenkrater damals die ersten Opfer entdeckt worden waren. Seit 1954 gedenken Dortmunder Bürger:innen an diesem Tag mit einer Mahn- und Gedenkfeier in der Bittermark jener Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft – und ab 1960 an dem dort errichteten Mahnmal.

Im Übrigen, Skandal – und mitnichten ein Einzelfall, sondern Normalität in der jungen Bundesrepublik: Die Täter jener Endphaseverbrechen seien nach Kriegsende in der Regel glimpflich davongekommen, erklärt Ekkehard Freye während seiner Lesung von Auszügen aus den Protokollen des späteren Rombergparkprozesses.

Konkret: Von den 147 Gestapo-Beamten der Hörder Wache beispielsweise wurden nach Kriegsende gerade einmal 28 angeklagt. Bei 15 Freisprüchen wurden die anderen Beteiligten zu Haftstrafen zwischen zwei und acht Jahren verurteilt. Alle anderen blieben unbehelligt.

Nach drei Jahren analoger Abstinenz: über 1000 Teilnehmende beim Heinrich Czerkus-Lauf

Nach der wegen Corona erzwungenen Zwangspause für analoge Veranstaltungen konnte am Karfreitag endlich wieder der Heinrich Czerkus-Lauf stattfinden – über ungefähr sieben Kilometer: beginnend am Stadion Rote Erde, durch das Naturschutzgebiet Bolmke, den Rombergpark bis zur diesjährigen Gedenkveranstaltung in der Bittermark, einschließlich Kranzniederlegung am Mahnmal.

Kranzniederlegung nach dem Lauf Thomas Engel | Nordstadtblogger

Mit dem Lauf soll dem Platzwart des BVB während der Zeit des NS, dem Kommunisten und Widerstandskämpfer Heinrich Czerkus, gedacht werden. Auch er wurde während der Verhaftungswelle Ende 1944 / Anfang 1945 festgenommen und zwischen dem 7. März und 12. April von der Gestapo ermordet.

Deutlich mehr als 1000 Teilnehmer:innen konnten die Organisatoren gestern begrüßen – die Naturfreunde Kreuzviertel, das Fanprojekt Dortmund, das BVB-Lernzentrum, der BVB-Fanclub Heinrich Czerkus sowie neben dem BVB die BVB-Fanabteilung. Das Startzeichen wurde von den BVB-Legenden Siggi Held und Teddy de Beer für die verschiedenen Gruppen gegeben: den Wanderern, Walkern, Joggern und Radlern.

Damit die Erinnerung lebendig bleibt: junge Menschen engagieren sich

Nicole Godard, in Vertretung der französischen Opfer Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Gedenkende Erinnerung braucht Menschen, insbesondere auch junge Menschen. Denn es gibt immer weniger Zeitzeugen, die noch über das unfassbare Unheil, das ihnen durch die deutschen Faschisten widerfuhr, berichten könnten.

Madame Nicole Gedard, u.a. stellvertretende Präsidentin des französischen Verbandes der Opfer und Überlebenden der Zwangsdeportierten in den Nazi-Lagern, spricht vom „Erbe“, das hinterlassen wurde und es zu bereichern gälte. Von der „Pflicht zur Erinnerung“.

Die Botschafter der Erinnerung erklären ihr neustes Projekt. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Und da waren sie, die Erben, in Gestalt junger Leute am Bittermark-Mahnmal, allen voran die Botschafter:innen der Erinnerung. Sie stellten ihr neues Projekt vor: „Gedenken unterwegs“. Mit Lastenrädern fahren sie etwa zu verschiedenen Gedenkstätten und erarbeiten konkrete Geschichten, die Einzelschicksale von Menschen, die von den Nazis ermordet wurden.

Begleitet wurde die Veranstaltung von Posaunenchören aus Dortmund und dem Kinderchor der Chorakademie. „Wir sind die Moorsoldaten …“ hallte es so über die Lichtung. Auf dass auch in Zukunft niemand vergesse, was einst geschah, um ein Wiederwachen von Unmenschlichkeit, Hass und Terror zu verhindern.

Bilderstrecke: Weitere Eindrücke von der Gedenkveranstaltung

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Reaktionen

  1. Ulrich Sander

    Gestatten Sie, auf unser Buch „Mörderisches Finale“ hinzuweisen, das der Förderverein Gedenkstätte Steinwache / Internationales Rombergparkkomitee am Beginn der Pandemie in zweiter und erweiterter Auflage herausgab. Und das dann infolge Corona nicht adäquat präsentiert werden konnte.
    Der Autor ist Ulrich Sander aus Dortmund, der Verlag ist der pappy rossa verlag, Köln. ISBN 978-3-89438-734-1, € 16,90 , 282 Seiten.
    Rund 90 Seiten sind den Morden in der Dortmunder Bittermark und dem Rombergpark im Frühjahr 1945 gewidmet.

    Zu dem Buch (Klappentext):

    Kurz vor der Befreiung wurden im Frühjahr 1945 Tausende Nazigegner „ausgeschaltet“. Gegen deutsche und ausländische Antifaschisten wie gegen Wehrmachtssoldaten, die sich am Wahnsinn nicht mehr beteiligen oder ihm ein Ende bereiten wollten, wurde ein groß angelegter Mordfeldzug in Gang gesetzt, um einen antifaschistischen Neubeginn nach dem Krieg im Keime zu ersticken. SS, Gestapo, aber auch einfache NSDAP-Mitglieder, Volkssturmmänner und Hitlerjungen nahmen teil an Massakern im Ruhrkessel, an Erschießungen in vielen Städten und Dörfern, am Mord an Gefangenen aus KZs und Zuchthäusern auf Todesmärschen, an Standgerichten gegen Deserteure. Die Verbrechen in der allerletzten Phase des Krieges waren sowohl örtliche Amokläufe als auch Teil der Nachkriegsplanungen des deutschen Faschismus. Ulrich Sander bilanziert das Ausmaß der Verbrechen, um die Opfer dem Vergessen zu entreißen und die Täter zu benennen. Er liefert eine erste – wenn auch unvollständige – Gesamtdarstellung dieser Vorgänge.

    Ulrich Sander, *1941, Journalist und freier Autor. Ehem. Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. Zahlreiche Beiträge in Büchern und Zeitschriften mit dem Schwerpunkt Antifaschismus und Antimilitarismus. Veröffentlichte bei PapyRossa „Die Macht im Hintergrund – Militär und Politik in Deutschland“, die Zwangsarbeiterreportage “Der Iwan kam bis Lüdenscheid” u.a.

  2. Hans Mayer

    Leider ein sehr schlecht recherchiertes, von politischen Absichten gelenktes Büchlein. Da sollte doch besser auf solide fachwissenschaftliche Aufsätze und Bücher zu den Endphasenverbrechen in und um Dortmund zurückgegriffen werden.

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