Übers Anschlusspokern und irritierte Kontrolleure

Eine Reisegeschichte: Mit dem Neun-Euro-Ticket von Dortmund zum Traum-T-Shirt in Leipzig

Startpunkt einer Reise – Der leere Dortmunder Hauptbahnhof am Morgen. Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Das Neun-Euro-Ticket soll primär eine Entlastung für Pendler:innen bringen, aber es bringt auch die Möglichkeiten für Reisen. Das bringt eine temporäre Freiheit und ermöglicht spontane Mobilitätsabenteuer. Nordstadtblogger-Autor Karsten Wickern hat das auf der Strecke Dortmund-Leipzig ausprobiert.

Dortmund Hauptbahnhof, 6.14 Uhr: Es ist früh am Mittwoch (1. Juni 2022) und ich stehe vor dem Dortmunder Hauptbahnhof. Das Neun-Euro-Ticket ist ab heute gültig. Viele andere Journalist:innen werden sich heute wohl in die Züge nach Sylt setzen und sich dort um die wenigen echten Sylt-Urlauber:innen streiten. Ich habe mir eine andere „Mission“ überlegt.

Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Gemeinsam mit zwei Freundinnen will ich nach Leipzig fahren und mir dort ein T-Shirt kaufen. Das alleine wäre natürlich aus zahlreichen Gründen unnötig, aber es geht ja auch irgendwie ums Erlebnis. Also los geht es! Die große Eingangshalle des Hauptbahnhofes ist fast leer. Die Zahl der Menschen, die hier warten oder einkaufen, kann ich an zwei Händen abzählen. Es ist aber auch erst viertel nach sechs.

Im langen Tunnel Richtung Norden steht eine Kollegin des WDR-Rundfunks. Potentielle Gesprächspartner:innen für sie auch hier gering. Ich husche vorbei und steige ab zur U-Bahn. Mein Regionalzug fährt nämlich garnicht von hier. Bei der Recherche vorab hatte sich der Zug ab Dortmund-Hörde als die schnellste Verbindung gezeigt. So zumindest die Theorie.

In Hörde angekommen, empfangen mich meine Reisebegleitung vor dem Bahnhof. Wir gehen durch die dunkle Unterführung zum Gleis. Eine Mischung aus Reisenden mit Reiserucksack und Pendler:innen wartet hier schon. Richtig voll ist es aber auch hier nicht. Der RE11 kommt und wir sind mental schon darauf vorbereitet in den Gepäckablagen zu reisen. Doch der Zug ist leer. Nur ein anderer Mensch sitzt in unserem Waggon. Wir könne also entspannt platz nehmen. Auf Sitzen wohlgemerkt. In den Gepäckablagen wäre auch gar kein Platz gewesen.

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„Kann man da überhaupt was reinlegen?“ fragt eine Freundin. Im Oberen Stockwerk des Doppelstockwagens ist die Ablage nämlich nicht viel breiter als eine Handfläche. „Vielleicht passt es für Regenschirme“, denke ich. Bei dem Gedanken werde ich unterbrochen – Die Anzeige zeigt auf einmal, dass der Zug in Unna endet. Das fängt ja gut an. Doch eine Durchsage bringt Klarheit. Wir waren so schlau in den Zugteil einzusteigen, der in Unna abgetrennt wird. Doch wir sind nicht die Einzigen. Aus dem ganzen Zugteil steigen in Unna einige menschen in den Vorderen um.

Neue Fahrgäste wollen in den hinteren Zug einsteigen, doch ein engagierter Zuggast mit Halbglatze ruft wiederholend „Alle vorne einsteigen“ über den Bahnsteig. Drinnen angekommen bietet sich jetzt ein anderes Bild als im hinteren Zugteil. Alles ist jetzt deutlich komprimierter. Sitzplätze finden wir trotzdem. Wenn auch nicht mehr als Gruppensitz. Ich sitze nun alleine. Meine länglichen Beine gehen seitlich in Richtung des zweiten Sitzes.

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Andere alleine Sitzende haben den zweiten Sitz mit einem Rucksack blockiert. Ich finde mich in Gedanken wieder, ob das denn jetzt unsolidarisch ist oder eine berechtigte Einforderung von Abstand. Und warum wird auf diesen offenbar bestehenden Bedarf eigentlich nicht mit flexibler Gruppierung eingegangen. Fragen über die man sich mit dem Neun-Euro-Ticket gut Gedanken machen kann. Denn genügend Zeit hat man ja. Nur Regionalverkehr nutzen zu können dauert.

Auch wenn sich der Unterschied zum Fernverkehr bei der Strecke Dortmund-Leipzig in Grenzen hält. 5:52 Stunden dauert hier die Neun-Euro-Fahrt ab Hörde planmäßig. Der Fernverkehr braucht ab Hauptbahnhof 4:27 Stunden aufwärts. Ein alter Herr holt mich aus den Gedanken. „Haben sie noch Platz anzubieten?“ fragt er. Natürlich habe ich. Meine Beine quetsche ich dann halt doch zwischen Sitz und Vordersitz. So fahren wir bis  Kassel-Wilhelmshöhe. Hier steht der nächste Umstieg an. Generell müssen hier alle raus – Endstation.

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Wie viele das dann am Ende doch in der Bahn waren, zeigt sich im Bahnhof. Ein Menschenmeer bewegt sich die lange Rampe in Richtung Bahnhofshalle hoch. Mehrere hundert Fahrgäste dürften es sein. Zum Glück steigt nur ein kleiner Teil davon zusammen mit uns in die Bahn nach Leinefelde. Dennoch ist die kleine Dieselbahn gut ausgelastet. Wir stehen wie viele andere Menschen im Gang zwischen den Sitzen. Ob nun wegen der Auslastung oder anderen Gründen – die Bahn baut Verspätung auf. Etwas blöd bei einer Umstiegszeit von wenigen Minuten.

Auf der Bahn-App checke ich den aktuellen Stand. Die Ankunftszeit verschiebt sich auf nach der geplanten Abfahrt des Anschlusszuges. Das Paar neben uns ist auch auf dem Weg nach Leipzig. „Hoffentlich wartet der andere Zug“, sagt der Mann zu seiner Frau. Die Bahn-App zeigt jetzt an, dass der Anschluss nicht mehr erreicht wird. Statt eine Stunde in dem gefühlten Nichts von Leinefelde zu bleiben, beschließen wir im Zug zu bleiben und bis Erfurt zu fahren. Das Paar neben uns will versuchen den Anschlusszug in Leinefelde dennoch zu bekommen.

Als wir in den Bahnhof einrollen steht der Zug noch zwei Gleise weiter. Die Gedanken kreisen sich gestresst, „noch versuchen oder soll man’s lassen?“. Die Türen öffnen und Menschen rennen in Richtung Unterführung. Wir bleiben sitzen und werden nach Erfurt fahren.

Auf dem anderen Gleis sehen wir unsere Mitgefahrenen die Treppen hinaufkommen. Wird der Zug sie noch mitnehmen? Die Türen öffnen sich und die gestressten Fahrgäste steigen erleichtert ein. Etwas bitter für uns, die es nicht riskiert haben, aber naja.

Es folgt eine Ticket-Kontrolle. Die Semester-Tickets scannt der Kontrolleur. Ein Ausweis will er nicht sehen. Doch das VRR-Ticket als Chipkarte sei nicht gültig. „Das habe ich hier noch nie gesehen“ sagt der Kontrolleur. Am Ende lässt er sich dann aber doch von der Gültigkeit überzeugen und geht seiner Wege. Bis Erfurt ist der Zug in Folge deutlich leerer.

In Erfurt haben wir jetzt etwas Zeit um etwas zu essen und ein Fotos mit „Bernd das Brot“ zu machen. Und am Bahnhof sehen wir dann die nächste Kollegin auf der Suche nach O-Tönen. Dieses mal vom MDR. Im Zug von Erfurt nach Leipzig dann wieder ein ähnliches Bild wie im Zug zuvor. Der Zug ist gut gefüllt. Allerdings ist hier auch eine Schulklasse dabei. Wir fahren an der NS-Gedenkstätte Buchenwald vorbei. 

. Die sind ich Couch-Form gebaut und eignen sich wunderbar für Gruppen. Warum haben wir sowas nicht im VRR?
. Die sind ich Couch-Form gebaut und eignen sich wunderbar für Gruppen. Warum haben wir sowas nicht im VRR? Karsten Wickern | Nordstadtblogger

„Mit dem Ticket könnte man natürlich auch viele Gedenkstätten besuchen“ sage ich. Eine von viele Möglichkeiten, die das Neun-Euro-Ticket mit sich bringt. Mit der Zeit leert sich der Zug und wir bekommen Sitzplätze. Die sind ich Couch-Form gebaut und eignen sich wunderbar für Gruppen. Warum haben wir sowas nicht im VRR? Mit dem Gedanken kommen wir in Leipzig an. Die große Halle des historischen Kopfbahnhofes ist ein deutlicher Kontrast zum Bahnhof in Dortmund.

Wir verlassen den Bahnhof und springen in die Straßenbahn. Ganz ohne aufwendige Ticketrecherche. Ein starker Vorteil des Tickets! Wir bringen unsere Taschen ins Hostel. Natürlich hätten wir am Nachmittag auch einfach wieder zurück fahren können, aber das wäre schon sehr anstrengend geworden. Schon jetzt sind wir müde von der Fahrt.

Wir kommen in einem Hostel mit starken Hipster-Vibes unter. Das private Zimmer für drei Personen kostet uns hier 70 Euro für eine Nacht. Verhältnismäßig günstig – aber ganz klar nicht Jede:n machbar. Auch wenn das Neun-Euro-Ticket die Fahrt an sich auch für finanziell schlechter gestellte Menschen ermöglicht.

Karsten Wickern | Nordstadtblogger

Nach dem wir ins Hostel eingecheckt haben, geht es daran, die Mission final zu erledigen. Dazu fehlt noch das T-Shirt. Das ich übrigens sowieso brauche und jetzt nicht extra kaufe. In einem Bekleidungsgeschäft werden unterschiedliche Shirts probiert und schließlich mit Studi-Rabatt zugeschlagen. Während meine Reisebegleiterinnen anschließend im Buchhandel shoppen, resümiere ich im Geiste. 

Insgesamt war es in den Zügen gar nicht so voll und stressig wie erwartet. Der kleine Regionalzug ab Kassel stellt aber ein Nadelöhr da. Es könnte daher sinnvoll sein den an frequentierten Tagen zu meiden und auf eine etwas längere Verbindung auszuweichen. Das bestätigt auch Twitternutzer Frank Paulsen, als ich den Gedanken bei Twitter teile.

Das 9 Euro Ticket bringt abseits der Entlastung von Pendler:innen eine riesige Zahl an Möglichkeiten im Freizeitbereich. Wenn man flexibel ist und auch mal den nächsten Zug nehmen kann, sowie die Möglichkeit besitzt abseits der Rushhour zu fahren, kann man viele schöne Microabenteuer erleben. Besonders wenn man die Fahrt nicht vorher bis ins Detail plant. Für mich wird es auf jeden Fall nicht der Letzte Trip gewesen sein. Auch wenn es zukünftig vielleicht nur ein Tagesausflug wird.

Karsten Wickern | Nordstadtblogger

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