
Am dritten Todestag von Mouhamed Lamine Dramé versammeln sich Angehörige, Aktivist:innen und Unterstützer:innen auf dem Kurt-Piehl-Platz, um dem jungen Geflüchteten zu gedenken. Inmitten von Musik, bewegenden Reden und einer Atmosphäre der Solidarität ist der Kampf gegen Polizeigewalt und für Gerechtigkeit lebendig.
Gedenken in der Nordstadt
Laute Beats schallen über den Kurt-Piehl-Platz. Vor einem Pavillon, vor dem der Rapper Moh Kanim aus dem Sudan seine Texte auf Englisch und Arabisch in das Mikrophon spricht, stehen Bänke in einem lockeren Halbkreis. Der belebte Platz ist gerahmt von Bannern, die mit Schnüren an jungen Bäumen befestigt sind. Sie tragen die Portraits und Namen von Opfern von Polizeigewalt, deren Geschichten erinnert werden.

Heute, am 8. August 2025, seinem dritten Todestag, gedenkt die Familie Dramé gemeinsam mit den Aktivist:innen des Solidaritätskreises „Justice4Mouhamed“ dem jungen Geflüchteten, der hier in der Nähe von der Polizei erschossen wurde. Hinter der Bühne werden in einem grünen Pavillon Kinder betreut. Es gibt Häppchen, Muffins und Kuchen gegen Spende. Auf der rechten Seite des Platzes, gegenüber des großen „Mouhamed“-Graffiti in Silber, Grün und Orange, liegen Blumen und Kerzen. Am Stand des Solidaritätskreises finden sich Flyer und Broschüren über Polizeigewalt, die Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit enthalten. Das Portrait von Mouhamed lehnt in einem Rahmen, sein Gesicht blickt von Plakaten, auf denen „No Justice – No Peace“ steht. Ein Awareness-Team der Betroffenenberatungsstelle „Back Up“ ist an ihren neonpinken Westen zu erkennen.
Angehörige trauern und erinnern gemeinsam
Vor der Bühne sind die Bilder und Namen weiterer Opfer von Polizeigewalt abgebildet: Lorenz A., der 2025 in Oldenburg erschossen wurde, Oury Jalloh, der vor 20 Jahren in einer Polizeizelle verbrannte und Nejib Boubaker, der im Dezember 2024 von der Polizei in Dortmund Scharnhorst erschossen wurde. Die Angehörigen einiger dieser Fälle sind ebenfalls vor Ort, um sich gegenseitig zu unterstützen und über die Gedenkarbeit zu sprechen.

Dennoch hat das Gedenken eher den Charakter eines Nachbarschaftsfestes als einer Trauerveranstaltung. Dies war auch der ausdrückliche Wunsch der Brüder Mouhameds, Sidy und Lassana Dramé, die sein Leben und seinen Traum feiern und erinnern möchten. Zu Beginn bittet ein Sprecher des Solidaritätskreises um eine Schweigeminute. Einzelne Personen heben dabei die Faust zum „Black Power“-Gruß. Ein Zeichen des Widerstands gegen Rassismus und rassistische Polizeigewalt.
Gegen das Vergessen, für Gerechtigkeit
Danach spricht Alex vom Solidaritätskreis über die Arbeit der letzten Wochen und Monate, nachdem der Prozess, gegen die Polizist:innen, die an dem Einsatz beteiligt waren, mit Freisprüchen für alle Angeklagten endete. Während der Antrag auf Revision der Staatsanwaltschaft und der Familie Dramé als Nebenklage gegen das Urteil noch läuft, setzen sich die Aktivist:innen dafür ein, den beiden Brüder Sidy und Lassana Dramé einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen. Alex betont: „Wenn sie [die Betroffenen] keine Gedenkarbeit leisten würden, würden ihre Liebsten vergessen“. Die Musik, die über den ganzen Abend verteilt immer wieder erklingt, sei ein Anliegen der Brüder gewesen.

Zwischen den Programmpunkten finden leise Gespräche statt. Kinder rennen umher, auch um den Polizeiwagen, der 50 Meter weiter die Veranstaltung beaufsichtigt. Die Polizei schätzt die Teilnehmenden auf rund 100 Menschen. Später werden es schätzungsweise 180 sein, die sich an der Brunnenstraße, Ecke Flensburger Straße zum Gedenken versammelt haben. Sidy Dramé hält eine Rede. Zunächst auf Deutsch, dann auf Französisch, wobei sie für die Umstehenden übersetzt wird. Sein Bruder steht währenddessen neben ihm, den Kopf gesenkt und atmet tief durch. „Wir wollen Gerechtigkeit, um eine Zukunft für die Familie Dramé zu erreichen, wie es Mouhameds Traum war“, sagt Sidy.
Angehörige im Prozess nicht berücksichtigt
Es sei ein Armutszeugnis, wie die Angehörigen mit der Erinnerungsarbeit allein gelassen werden, sagt ein Al Sirin, Sprecher des Solidaritätskreises. Danach treten die anwesenden Angehörigen der Opfer von Polizeigewalt zusammen: die Brüder Dramé, Mamadou Diallo, der Bruder des 2005 getöteten Oury Jalloh und Angehörige von Nejib Boubaker. Sidy antwortet auf die Frage von Al Sirin, wie sie den Prozess gegen die angeklagten Polizist:innen erlebt haben: „Wir haben uns unnötig gefühlt. Der Richter ist nicht auf uns [als Nebenklage] eingegangen, hat keinen Blick auf uns geworfen. Es ist eine Schande, das wir auf einen anderen Kontinent gekommen sind und im Prozess nicht gewürdigt werden“.

der Dortmunder Polizei in Scharnhorst erschossenen Nejib Boubaker. Leopold Achilles | Nordstadtblogger
Ein Angehöriger von Nejib Boubaker erzählt von dem Einsatz, der zum Tod des 70jährigen führte. Er berichtet, dass Nejib Boubaker drei epileptische Anfälle gehabt habe, woraufhin seine Mitbewohnerin und Ex-Frau den Rettungsdienst gerufen hatte. Dieser wollte Nejib Boubaker ins Krankenhaus mitnehmen, doch er protestierte. Der Rettungsdienst drohte mit der Polizei und rief diese später. Nejib, wohl orientierungslos aufgrund der Anfälle, griff zu einem Küchenmesser und trat auf die Straße, wo die Polizei auf ihn zukam. Entgegen der Darstellung der Polizei, hätte Nejib die Polizisten nicht angegriffen, da ihm dies aufgrund einer Gehbehinderung nicht möglich gewesen wäre.
Die Angehörigen und Bekannten fordern, das es zu einem Prozess gegen die beteiligten Beamt:innen kommt, jedoch mache man sich keine Illusionen. Die Staatsanwaltschaft hat bereits verkündet, dass die Ermittlungen eingestellt würden. „Wenn nicht so viele Menschen solidarisch wären, würde ich nicht hier sitzen. Der Solikreis und Back Up haben uns sehr geholfen“, betont er. Mamadou Saliou Diallo, langjähriger Aktivist, fügt hinzu: „Wir müssen uns gegenseitig unterstützen. Was die beiden [Sidy und Lassana Dramé] durchmachen, das kenne ich. Wir fühlen den Schmerz. Wir wissen nicht, wen es als nächsten trifft. Das System marschiert weiter, wir werden Widerstand leisten“.
Rund 180 Menschen erinnern an Opfer von Polizeigewalt
Einige der umstehenden tragen T-Shirts mit dem Gesicht von Mouhamed oder der erhobenen Schwarzen Faust. Dort steht erneut der Ausruf, der die Betroffenen verbindet: „No Justice – No Peace“, keine Gerechtigkeit – kein Frieden. Auf die Frage, was Mamadou Diallo in den 20 Jahren Aktivismus über Erinnerungsarbeit gelernt hat, sagt er: „Arbeitet mit den Familien, rückt sie in den Mittelpunkt.“

Woher sie die Kraft nehmen, Gedenkarbeit zu machen, beantwortet der Nachbar von Nejib Boubaker: „Einen Moment aufzugeben, gab es nie. Es ist eine Systemfrage, wenn wir über Polizeigewalt reden. Der Kampf lohnt sich, wenn Nejib erinnert wird und die Polizei sich mal Gedanken macht“. Während die Angehörigen sprechen, hören alle ruhig zu. Manche haben sich auf den Boden gesetzt.
Zum Abschluss der Gesprächsrunde schallt es über den Platz und durch die Straßen und Gassen der Nordstadt: „No Justice – No Peace“ und „Oury Jalloh, Mouhammed – das war Mord“.

Alex und Julie vom Solidaritätskreis „Justice4Mouhamed“ erklären, die Idee des Gedenkens am dritten Todestag war es, trotz des unglücklich gelaufenen Prozesses, weiterzumachen, das Gedenken aufrecht zu halten und auch gegen den Prozess zu protestieren.
Sie seien mit dem Ergebnis zufrieden, auch im dritten Jahr noch Solidarität zu erfahren. Sie betonen zudem: „Es geht nicht nur um ihn [Mouhamed]. Er ist bei weitem nicht der einzige. Die Vernetzung mit anderen Betroffenen ist hilfreich, auch um Kontinuitäten innerhalb von Dortmund aufzuzeigen. In solchen [psychischen Ausnahme-] Situationen gibt es keinen Grund, die Polizei zu rufen.“ Man möchte auch eine Öffentlichkeit erreichen, für Nejib Boubaker.
Blumen und Kerzen am Tatort
In der Nähe des Platzes, am Tatort, wo eine Plakette für den Getöteten angebracht ist, werden Kerzen niedergelegt. Schwarz-gelbe Blumen, die Farben von Mouhameds Lieblingsfußballverein, stecken im Zaun an der Stelle.

Menschen hocken oder stehen davor, legen sich die Hand auf die Schulter, um sich Kraft zu geben. Zuletzt tritt eine Trommlergruppe aus Wuppertal auf, sie sind Freunde von Sidy Dramé. Sie wollen die Stimmung wieder auflockern, und fordern die Umstehenden zum Mitmachen auf. Nach anfänglichem Zögern fällt der ganze Platz in den melodischen Gesang mit ein.