Triggerwarnung: Transfeindlichkeit
Im September 2020 verabschiedete die Mitfrauenversammlung der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ ein Positionspapier zu trans Personen. Mittlerweile hat die Mitfrauenversammlung der Organisation in einer mehrheitlichen Abstimmung entschieden, das Positionspapier zurückzurufen – nach starker Kritik mit dem Vorwurf der Transfeindlichkeit. Am heutigen Abend veranstaltet die Ortsgruppe in Dortmund, die sich weiterhin vehement für das Papier ausspricht, eine Lesung des Buches „Raus aus dem Genderkäfig. Der Kampf um Frauenbefreiung im 21. Jahrhundert“ mit der Soziologin Manuela Schon.
Mädchenschutz und Frauenrechte vs. trans Rechte: Ist beides möglich?
Die Mitfrauenversammlung der Frauenrechtsorganisation „Terre des Femmes“ bestätigte am 2. Juni 2023 den Rückzug ihres Positionspapiers zu trans Menschen nach massiver Kritik der Transfeindlichkeit. Die Dortmunder Ortsgruppe hingegen stellt sich weiterhin hinter das Papier und positioniert sich somit gegen die eigene Geschäftsstelle. Zu der anhaltenden Zustimmung des Positionspapiers schreibt die Dortmunder Ortsgruppe, die Geschäftsstelle in Berlin habe mit dem Rückzug „einem Gefühl einen höheren Stellenwert zugestanden als der Rechtskategorie Frau.“ Dies stünde entgegen der ureigenen Aufgabe von „Terre des Femmes“ – dem Einsatz für Mädchenschutz und Frauenrechte.
Konkret kritisiert die Dortmunder Ortsgruppe das neue Selbstbestimmungsgesetz, das die Änderung des Geschlechtereintrags für trans Personen vereinfachen und somit den mit dem bürokratischen Vorgang einhergehenden hohen Leidensdruck mindern soll. „Durch das geplante Selbstbestimmungsgesetz kann sich jeder Mensch nach eigener Einschätzung bei Ämtern zu Mann oder Frau erklären“, erklärt die Koordinatorin der Städtegruppe Dortmund Simone Kleinert. „Wir Frauen möchten darüber reden können, ob die Konsequenzen, die dieses geplante Gesetz mit sich bringt, nicht auch Auswirkungen auf Mädchen- und Frauenschutzträume haben.“
Die Dortmunder Ortsgruppe sieht demnach in dem Selbstbestimmungsgesetz für trans Menschen einen Gegensatz zu Mädchenschutz und Frauenrechten und möchte im Rahmen der Veranstaltung mit der Soziologin Manuela Schon mit weiteren Cis-Frauen darüber sprechen, ob das Selbstbestimmungsgesetz perspektivisch Auswirkungen auf Mädchen- und Frauenschutzräume hat.
„Der Gedanke Männer sind gefährlich und bleiben immer gefährlich ist zu einfach gedacht“
Nordstadtblogger.de hatte die Möglichkeit mit einer betroffenen Person zu sprechen: AJ ist 19 Jahre alt, identifiziert sich als nicht binäre trans Person und hat die Pronomen dey/deren. Konkret heißt dies, dass AJ sich keinem der beiden binären Geschlechter zugehörig fühlt. Im Vorfeld des Interviews haben wir AJ das Positionspapier der Frauenrechtsorganisation „Terre de Femmes“ zugesendet.
NSB: Hallo AJ, schön, dass du mit uns über das Positionspapier von „Terre des Femmes“ sprechen möchtest. Was waren deine ersten Impressionen nach dem Lesen?
AJ: Ich hatte das Gefühl ich bin in einem Fiebertraum gefangen. Obwohl ich schon etwas vertraut mit den Positionen der Organisation war, war es sehr kräftezehrend und schmerzhaft für mich.
NSB: Was möchtest du gern konkret besprechen?
AJ: Das Argument trans Personen träten in fest definierte Geschlechterrollen ein und trügen dazu bei, das Patriarchat weiterzuführen. Natürlich gibt es trans Personen, die in klassische Rollenbilder reingehören möchten – und das ist auch völlig okay. Wenn man sich auf globaler Ebene anschaut, wie viele trans Personen es gibt und dann meint, diese Handvoll Menschen befeuere das Patriarchat maßgeblich, zieht falsche Schlussfolgerungen.
Insgesamt habe ich den Eindruck, das Positionspapier und „Terre des Femmes“ unterstellt, dass Menschen, die mit dem männlichen Geschlecht geboren worden sind, ihre Sozialisierung niemals ablegen oder reflektieren können und somit per se eine Gefahr für Frauen darstellen. Das gilt in ihrem Sinne dann auch für trans Frauen.
Natürlich kann man seine Sozialisation auch reflektieren und sich davon befreien, genau das tun ja die Frauen von „Terre des femmes“ auch, aber anderen Menschen sprechen sie diese Fähigkeit ab. Der Gedanke „Männer sind gefährlich und bleiben immer gefährlich“ ist zu einfach gedacht.
Aus der Annahme der fehlenden Fähigkeit von Männern, sich ihrer Sozialisation bewusst zu werden und diese aufzuarbeiten, schlussfolgert „Terre des femmes“, dass trans Frauen eine Gefahr für Frauenschutzräume darstellen.
NSB: Und das siehst du nicht so?
AJ: Nein. Anzunehmen, dass Männer sich extra outen, ihren Geschlechtseintrag ändern und sich „verkleiden“ müssten, um in Frauenschutzräume eindringen zu können ist absoluter Schwachsinn, denn das können sie so oder so. Wenn ein Mann sich einer Frau aufdrängen möchte, dann muss er nicht erst den Prozess der transition durchlaufen, sondern tut es so.
NSB: Was hat dich persönlich am meisten irritiert?
AJ: Die Unterstellung, dass ich dem Patriarchat entfliehen möchte, indem ich mich als „Nicht-Mädchen fühle“. Das ist völliger Quatsch. Ich werde von Fremden sowieso meist weiblich gelesen und somit auch in ein Rollenbild gesteckt. Dem Patriarchat in einer patriarialen Gesellschaft zu entfliehen ist ja nicht möglich. Zudem sind die Beweggründe genau so individuell wie wir Menschen selbst.
NSB: Was würdest du dir von „Terre des Femmes“ wünschen?
AJ: Ich finde es sehr schade, dass „Terre des Femmes“ zum einen fortschrittlich und gleichzeitig derartig rückschrittig ist. Sie bestärken mit ihrer Polarisierung Transfeindlichkeit, in einer Zeit in der Gewalt gegen trans und queere Personen steigt und Parteien wie die AfD Kampagnen – zuletzt den „Stolzmonat“ als Aktion gegen den „pride-month“ – gegen queere Menschen starten.
„Raus aus dem Genderkäfig“: Soziologin will Antworten auf kontroverse Fragen liefern
In einer Pressemitteilung informierte die Ortsgruppe Dortmund von „Terre des Femmes“ über eine Veranstaltung, mit der sie sich aktiv gegen den Rückzug des Positionspapiers und somit gegen die mehrheitliche Entscheidung der Mitfrauenversammlung stellen möchten. Am Mittwoch, den 14. Juni 2023, liest die Soziologin Manuela Schon um 19 Uhr aus ihrem Buch „Raus aus dem Genderkäfig“. Dabei will die Soziologin Antworten auf Kontroversen liefern, wie die Frage, „ob es tatsächlich mehr als zwei Geschlechter gibt oder aktuell Geschlechter und soziale Identitäten unzulässig gleichgesetzt werden?“
Fragen zu den konkreten Standpunkten oder nach Erklärungen von getätigten Äußerungen der Ortsgruppe Dortmund blieben leider trotz Medienanfrage unbeantwortet und lassen somit weiterhin einen Interpretations- und Spekulationsspielraum. Dabei hätte eine Stellungnahme zu spezifischen kontroversen Standpunkten einen Diskurs ermöglichen können.
Besonders Antworten auf die Fragen, ob die Ortsgruppe der Frauenrechtsorganisation selbst in Kontakt mit trans Personen steht und ein Perspektivenaustausch stattfindet, oder ob die Ortsgruppe trans Frauen als Frauen anerkennt, sind von großem öffentlichen Interesse. Den Veranstaltungsort der Lesung gab die Organisation erst kurz vor Beginn und auf Nachfrage bekannt – aus Angst vor Übergriffen.
Reaktionen
Melanie Baumgart
Es gibt etliche seriöse (!) Studien über Transidentität. Allerdings werden diese vorsätzlich ignoriert und der Gesellschaft vorenthalten, im Gegensatz zu transfeindlicher Hetze mit kriminalisierenden Unterstellungen. Es könnte lohnen, sich einmal selbstkritisch mit dieser Methodik auseinanderzusetzen.
In jedem Fall lässt sich ein komplexes menschliches Gehirn nicht so einfach analysieren wie die Erbsubstanz eines Virus.
Insofern wird die Wesenheit von Transidentität kaum in vollem Umfang zu verstehen sein.
Das ändert aber nichts daran, dass es Transmenschen gibt. Und nichts und niemand darf sich anmaßen, Transmenschen zu verurteilen, nur weil die betreffenden Personen nichts davon verstehen oder verstehen wollen.
In jedem Fall sind Transmenschen Menschen wie cis-Menschen auch mit demselben Anspruch, akzeptiert zu werden und nicht täglich psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt zu sein.