„Total normale Sachen“: Demenz-WG „Villa Johanna“ als Alternative zum Altenheim im Unionviertel Dortmund

Mit diesem auffälligen Bild wirbt die Senioren-WG in der Innenstadt für sich.
Mit diesem auffälligen Bild wirbt die Senioren-WG in der Innenstadt für sich. Fotos: Ursula Maria Wartmann

Ein Gastbeitrag von Ursula Maria Wartmann

Es ist still in der Wohngemeinschaft (WG), sieben Leute sitzen auf den Sofas und gucken fern, ein paar andere am Tisch sinnieren vor sich hin oder beobachten Kevin, der in der offenen Küche gut gelaunt eine Pizza mit Pilzen belegt. Es geht auf Mittag zu, ein warmer Tag im August; seit Anfang Januar 2019 gibt es diese WG, und wie üblich sind auch heute deren Mitglieder erst aufgestanden, als ihnen danach war. Kaffee oder ein belegtes Brot gibt es schließlich immer, „aber mit dem Mittagessen“, sagt Ute Kenyon, „da fängt die Struktur hier an, das ist ein Fixpunkt, und das ist auch gut so.“ 

Die Lebensläufe vieler alter Menschen sind durch Kriegstraumata geprägt

Ute Kenyon ist 52, Krankenschwester wie ihre Mutter und Tochter Carolin. Gemeinsam mit dem Ex, einem Engländer („Phillip – zwei L, ein P.“) arbeitet sie bei UK Kranken- und Seniorenpflegedienst; sie ist Chefin, gute Seele, diejenige, die Impulse gibt. Sie ist blond und lebhaft, eine Frau, die Begeisterung für ihren Job versprüht.

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Der einladende Terrassenbereich der „Villa Johanna“.

Vor drei Jahren hat sie noch ein Masterstudium draufgesetzt, um noch mehr zu lernen, noch mehr zu verstehen. „Alte Menschen, das Thema Demenz“, ruft sie, während Pflegehelfer Kevin die nächste Pizza belegt, „das ist ganz einfach mein Ding!“

Sie führt durch die hellen blitzsauberen Räumlichkeiten: zwei Stockwerke, zwei Etagen, Einzelzimmer zum Teil mit schneeweißen Bädern. Alles neu. Lange Flure mit Handlauf und, ja, natürlich sollen die WG-Mitglieder ihre eigenen Möbel mitbringen. In einem der Zimmer wird gerade gepflegt. In einem anderen sieht jemand fern.

Wir passieren das Zimmer von Herrn Gutt, er sitzt unten und freut sich schon auf das Mittagessen, und in seinem Zimmer sehen wir ein Foto hängen, das ihn vor einer halben Ewigkeit zeigt: ein schönes, sanftes Männergesicht, in dem sich die Freundlichkeit über all die Jahrzehnte gehalten hat. Trotz allem, muss man wohl sagen, denn viele von ihnen hier, sagte Ute Kenyon, „haben die furchtbaren Kriegszeiten hinter sich. Haben liebe Menschen verloren, Trauer erlebt und Traumata zurückbehalten.“ 

Zwölf Menschen wohnen seit Anfang des Jahres 2019 in der „Villa Johanna“ in der Augustastraße

Ute Kenyon: „Man glaubt es nicht, wieviel Menschen ganz ohne Angehörige sind.“

Sie berichtet von einem Mann, der aus einem Straßengeräusch immer wieder das Rasseln von Panzern heraushört; der Mann kommt vor Angst fast um. „Er gerät ins Delir“, sagt Ute Kenyon, „er kann sich selbst dann nicht mehr auffangen.“

Oder die alte Dame, 80jährig, die das Thema Vergewaltigung eines Tages nicht erträgt. Die weint, zittert, die Glasplatte eines Couchtischs mit der bloßen Faust zertrümmert. Mit Sprechen, berühren, einfach liebevoll da sein, sagt Ute Kenyon, könne man dann Erste Hilfe leisten. „Auf Zuwendung reagiert jeder Mensch. Bis hin zu seinem Tod. Diese Erfahrung machen wir immer wieder.“

Zwölf Menschen wohnen seit Anfang des Jahres 2019 in der „Villa Johanna“ in der Augustastraße, zwölf von insgesamt 34, die in Wohngemeinschaften von Ute Kenyon mit Sitz in Brackel untergebracht sind: zwei finden sich in Körne, eine am Westfalenpark und eine eben hier im Unionviertel. Die Keimzelle der Demenz-WGs stand einst in der Gartenstadt Süd; 1991 hatte der UK Pflegedienst mit seiner Arbeit begonnen.  

Ute Kenyon: „Mit Liebe und Empathie erreichen Sie eigentlich ausnahmslos alle.“ 

In der Küche können viele Arbeiten gemeinsam erledigt werden.

Es gibt Wartelisten. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Platz in der Regel erst frei wird, wo jemand gestorben ist. Vor dem Einzug wird so manches Gespräch geführt. „Wir sprechen mit den Angehörigen – wenn es denn welche gibt“, sagt die Chefin. „Man glaubt es nicht, wieviel Menschen ganz ohne Angehörige sind.“

Ein einziges Ausschlusskriterium für das Wohnen gebe es hier, sagte Kenyon: „Und das ist Fremdaggressivität.“ Was meint: Wer andere mit Gewalt bedrohe oder Gewalt anwende, könne gar nicht erst einziehen oder müsse wieder gehen. Doch das ist graue Theorie, denn: „Mit Liebe und Empathie erreichen Sie eigentlich ausnahmslos alle.“

Die sich hier und heute hier aufhalten, scheinen sich wohl zu fühlen. Wer will, kann täglich an dem einen oder anderen Angebot teilnehmen. „Das sind“, sagt Ute Kenyon, „jetzt keine Bespaßungen wie im Kindergarten, sondern total normale Sachen.“ Brettspiele sind beliebt: „Mensch-ärgere-dich-nicht“ ist am beliebtesten und manchmal geht man mit ein, zwei Leuten nach Rewe rüber.

Alle freuen sich, wenn Angehörige kommen, das bringt ein bisschen Leben in die Bude, zum Beispiel beim Sommerfest. Manche falten gerne Wäsche, helfen in der Küche, schnibbeln Gemüse, gießen Blumen.

Und wenn einmal in der Woche die Sozialarbeiterin mit der Gitarre kommt, wird die Mundorgel rauf und runter geschmettert – das kommt gut an, ganz wie heute bei den Jüngeren wieder; sogar bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen gab es vor einer Weile das allseits beliebte „Rudelsingen“. „Kein schöner Land“ oder „Im Frühtau zu Berge“ … So etwas vergisst man nie, auch nicht, wenn die Demenz schon weit fortgeschritten ist.

Bei beginnender Demenz ist die Biografiearbeit sehr wichtig – Was war besonders in deinem Leben?

Wenn bei den PatientInnen das Vergessen beginnt, sind Dinge wie Fotos oftmals nützliche Informationsquellen für das Pflegepersonal.

Wo das noch nicht der Fall ist, im Anfangsstadium der Demenz, sei Biografiearbeit wichtig, erläutert Ute Kenyon. Zu diesem Zeitpunkt könne man noch Informationen bekommen, sie aufschreiben, dokumentieren.

Was waren herausragende Ereignisse, Erlebnisse in diesem einen besonderen Leben – in guten wie in schlechten Tagen? Nur so könne man einen Menschen verstehen und auf ihn eingehen, auch später dann, wenn er sich irgendwann nicht mehr selbst verständlich machen könne. 

Sie strahlt. Während des Master-Studiums hat sie einen gewissen Niklas kennengelernt, betagt und sehr dement. Traurig auch. In den Akten stand, dass er früher gerne mal einen alten Whisky trank. Vielleicht würde man ihn darüber noch erreichen können?

Ute Kenyon besorgte ein Fläschchen, „Pinnekes“ dazu. Und Prost! „Und dann ging auf einmal ein Lächeln über sein Gesicht, das war eine Sensation. Das war reines Glück bei ihm. Und das ist es, was ich an dem Beruf liebe, was mich immer wieder wirklich ergreift.“

Urbanes Gärtnern – da ist die WG in der „Villa Johanna“ auf der Höhe der Zeit

Pflegehelfer Kevin in der Küche.

Hm, lecker. Die Pizza duftet schon. Wer Lust hat, wird gleich mithelfen. Eindecken oder abräumen. Oder – Ute Kenyon zeigt mir die geräumige Terrasse – noch eben zum Ernten rausgehen, vielleicht für einen kleinen Salat: In einem Hochbeet aus hellem Holz wächst ein mächtiger Tomatenstrauch, ein anderes Beet ist mit verschiedenen Kräutern bepflanzt.

Urbanes Gärtnern eben – da ist die WG in der „Villa Johanna“ auf der Höhe der Zeit. Ganz so, wie viele ihre jüngeren WG-Schwestern, die übers ganze Unionviertel verteilt sind, das so schön nah an der Uni und den Fachhochschulen liegt. 

Ute Kenyon nimmt einen Schluck Wasser; sie hat viel erzählt in der letzten Stunde. Ihre Wärme und ihr Optimismus haben dem Thema ein bisschen seinen Schrecken genommen; gut, okay, man möchte nicht gleich übermorgen einziehen, aber wenn es mal soweit sein sollte … Ute Kenyon (oder eine wie sie) sollte dann, na ja, möglichst vielleicht die Chefin sein …? Und den netten Herrn Gutt, mit seinem freundlichen sanften Gesicht, den hätte man dann wirklich gerne als Nachbarn.

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