
An einem gewöhnlichen Dienstagmittag ist es ungewohnt voll in der Leopoldstraße 16–20. Stimmengewirr, Kaffeegeruch, Gesprächsfetzen über Löhne, Kündigungen und Würde. Die Beratungsstelle Arbeit der AWO Dortmund hat zum Tag der offenen Tür geladen – und kaum ein Stuhl bleibt frei. Anlass ist der Welttag für menschenwürdige Arbeit.
Ein starkes Zeichen für Gerechtigkeit in der Nordstadt
„Für Arbeit, die Leben lässt“ steht über der Ausstellung, die an diesem 7. Oktober eröffnet wird. Auf Stellwänden hängen Geschichten: von Menschen, die gearbeitet, gehofft und zu oft verloren haben. Eine Frau, deren Lohn ausblieb. Ein Mann, der nach zwanzig Jahren plötzlich „nicht mehr gebraucht“ wurde. „Das sind keine Einzelfälle“, sagt Beraterin Andrea Torlach leise. „Das sind Gesichter unserer täglichen Arbeit.“

Bürgermeister Norbert Schilff trifft in seiner Begrüßung einen Nerv: „Wir müssen viel stärker in die Öffentlichkeit gehen und für menschenwürdige Arbeit werben. Denn sie ist keine Selbstverständlichkeit.“ Dortmund sei vom Wandel der Arbeit geprägt – von der Industrie zur modernen Dienstleistungsstadt. „Aber der Respekt vor den Menschen, die unsere Gesellschaft tragen, darf nicht verloren gehen.“
Er fügt hinzu: „Unsere Stadt war und ist immer auch eine Stadt der Arbeit. Die Menschen hier wissen, was harte Arbeit bedeutet – und was es heißt, wenn sie nicht mehr wertgeschätzt wird. Diejenigen, die frühmorgens in Bus und Bahn steigen, in der Pflege arbeiten, in der Gastronomie, im Lager oder in der Reinigung – sie halten den Laden am Laufen. Aber viele von ihnen leben trotzdem in Unsicherheit. Daran erinnert uns dieser Tag. Und daran, dass Arbeit nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale und menschliche Dimension hat.“
Für Schilff ist die Beratungsstelle ein Symbol für das, was gelebte Solidarität bedeutet: „Hier wird nicht verwaltet, sondern gekämpft – für Respekt, für Gerechtigkeit, für Menschlichkeit im Arbeitsleben. Das verdient Anerkennung und Unterstützung.“
Zwischen Papierbergen und Lebensgeschichten
Seit 2015 berät das Team Menschen in prekären oder ausbeuterischen Beschäftigungen, bei Problemen mit Leistungsbescheiden, Lohnforderungen oder Kündigungen. 2024 führten sie 1.877 Beratungen durch, 786 davon über Monate hinweg. Sechzig Prozent der Ratsuchenden sind arbeitslos, fast siebzig Prozent haben Migrationshintergrund, berichtet dobeq-Geschäftsführerin Heike Henze-Brockmann.

„Viele kommen mit einem Karton voller Unterlagen und sagen: ‚Ich weiß nicht weiter‘“, erzählt Henze-Brockmann. „Wir sortieren, erklären, helfen, Rechte durchzusetzen. Und manchmal geht es einfach darum, dass jemand zuhört.“
Beraterin Beata Gilge spricht von einem „Wald der Stimmen“, der in der Ausstellung gewachsen ist. Besucher*innen konnten dort aufschreiben, was für sie menschenwürdige Arbeit bedeutet. Ihre Antworten sind ehrlich, oft schonungslos – und erzählen von Wünschen, die so schlicht wie grundlegend sind.
Was ist menschenwürdige Arbeit? Stimmen, die bleiben
„Mehr als Mindestlohn. Nicht mehr als 40 Stunden pro Woche. Unterstützung bei der Teambildung“, schreibt Marcus, 52, Logistiker. „Arbeit mit festem Vertrag. Nicht unter 13 Euro pro Stunde“, ergänzt Bozena, 75, ehemalige Buchhalterin aus Polen. „Gerechte Löhne, saubere Toiletten, eine Cafeteria, ein Pausenraum – und Chefs, die zuhören“, steht auf dem Zettel von Conny, 45.

Für viele klingt das banal. Doch wer mit den Ratsuchenden spricht, merkt schnell, wie selten diese Selbstverständlichkeiten geworden sind. „Viele unserer Klientinnen und Klienten haben Angst, ihre Rechte einzufordern“, sagt Beraterin Torlach. „Sie wissen, dass sie austauschbar sind – und dass die Würde des Menschen am Arbeitsplatz oft die erste ist, die auf der Strecke bleibt.“
„Wenn man nicht das Gefühl hat, eine Maschine zu sein und nur zu funktionieren“, notiert Georgi, 41, Fahrer aus Bulgarien. „Gleiche Behandlung ohne Diskriminierung, genug Gehalt, fester Vertrag“, wünscht sich Emir, 35, Lagermitarbeiter.
„Ich möchte einfach sicher sein, richtige Arbeit zu haben – ohne Angst vor der Zukunft“, sagt Marta, 57, Hauswirtschaftshelferin aus Äthiopien. Und Reza, 60, fügt hinzu: „Viele Ausländer haben Angst vor der Arbeit, weil sie kein Deutsch sprechen. Sie brauchen Sicherheit. Und ehrliche Menschen, denen man vertrauen kann.“
Klare Botschaft: „Für Arbeit, die Leben lässt“

Die Ausstellung in der Beratungsstelle ist eine Collage aus Stimmen und Geschichten – berührend, konkret, manchmal wütend. „Menschenwürdige Arbeit“, sagt Beata Gilge, „heißt nicht Luxus. Es heißt: pünktlicher Lohn, Respekt, ein Job, der trägt. Arbeit darf nicht krank machen. Sie muss Leben ermöglichen.“
Dass die Finanzierung der Beratungsstelle Ende 2025 ausläuft, bereitet Heike Henze-Brockmann große Sorgen. „Eine halbe Stelle fällt weg, obwohl der Bedarf steigt. Das ist kaum zu vermitteln.“ In Zukunft soll die Arbeit verstärkt mobil werden, mit mehr aufsuchenden Angeboten. „Aber Beratung funktioniert nur, wenn Menschen wissen, wohin sie sich wenden können“, betont sie. „Wir wollen Menschen erreichen, aber wir müssen auch erreichbar bleiben.“
Errungenschaften wie Mitbestimmung, Mindestlohn oder Kündigungsschutz unter Druck
Für die AWO-Vorsitzende und SPD-Landtagsabgeordnete Anja Butschkau erinnert in ihrer Grußbotschaft an die Wurzeln dieses Tages: „Gute und faire Arbeit ist keine Selbstverständlichkeit. Sie wurde erkämpft – durch Gewerkschaften, durch Menschen, die Haltung gezeigt haben. Heute erleben wir, dass Errungenschaften wie Mitbestimmung, Mindestlohn oder Kündigungsschutz wieder unter Druck geraten.“

Sie führt weiter aus: „Wenn Menschen gezwungen sind, Überstunden ohne Bezahlung zu leisten, wenn Werkverträge verschleiern, wer wirklich Verantwortung trägt, oder wenn Menschen sechs Monate im Auto schlafen müssen, weil der Arbeitgeber keine Unterkunft stellt – dann ist das keine Randnotiz. Dann sprechen wir über Menschenwürde. Und die ist nicht verhandelbar.“
„Beratungsstellen wie diese leisten Aufklärung, Schutz und konkrete Hilfe. Sie kämpfen an der Seite derer, die sonst keine Stimme haben. Sie zeigen: Niemand ist allein – nicht bei Kündigung, nicht im Krankheitsfall, nicht im Kampf um gerechten Lohn. Menschenwürdige Arbeit ist ein Grundrecht, das wir jeden Tag verteidigen müssen.“
Ein Tag des Handelns als Mahnung
Am Ende des Nachmittags wird es still. Zwischen den Stellwänden, zwischen Geschichten und Zahlen bleibt vor allem eines hängen: Ohne Menschen, die sich einsetzen, bleibt „menschenwürdige Arbeit“ nur ein Wort.

„Wir hoffen, dass dieser Tag nicht nur ein Tag des Erinnerns ist, sondern ein Tag des Handelns“, sagt Henze-Brockmann beim Abschied. „Denn Arbeit darf nicht krank machen. Sie muss Leben lassen.“
Oder, wie es einer der Ratsuchenden auf seinen Zettel geschrieben hat: „Wenn man als Mensch akzeptiert wird – dann ist es Arbeit, die Leben lässt.“
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