Neue Fachkräfte: Kaylene und Heinrich Williams organisieren ihre Familie über Kontinente hinweg

Fachkräftezuwanderung von Pflegekräften am Klinikum Dortmund

Anne Jahn für nordstadtblogger.de

Während viele Politiker*innen über Abschiebungen statt über die Notwendigkeit von Zuwanderung, die soziale Teilhabe von Migrant*innen oder gar über die Anerkennung ihrer Leistungen für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ sprechen – schauen wir auf die Menschen die tatsächlich etwas gegen den Pflegenotstand tun: ausländische Pflegekräfte am Dortmunder Klinikum.

Eigentlich gibt es nicht den einen Anfang einer Geschichte. Was es allerdings gibt, sind Erinnerungen, die wir versuchen können so sinnvoll wie möglich miteinander zu verbinden. Eine dieser Erinnerungen ist der Moment, als Heinrich eine Anzeige auf Facebook sieht. Er kennt zwar Kolleg*innen die nach England und Saudi-Arabien gegangen sind, um dort zu arbeiten, aber dass Deutschland auch Pflegekräfte benötigt, erfährt er erst aus dieser Werbeanzeige im Internet.

Vom Kap der guten Hoffnung nach Dortmund

Eine weitere Erinnerung ist der kaputte Monitor in der Ecke einer Aufwachstation 50 Kilometer von Kapstadt entfernt, über den Heinrich und Kaylene ins Gespräch kommen. Es ist 2016. Er ist damals Ende 30 und neu im Job als Stations-Manager, für den er täglich kilometerweit durch das Verkehrschaos von Kapstadt pendelt. Sie ist Mitte 20 und arbeitet als Pflegerin auf Station.

Sie verlieben sich ineinander. Acht Jahre später, im Spätsommer 2024, sitzen sie uns gemeinsam gegenüber. Nicht in Kapstadt, sondern in einem polarweiß gehaltenem Pausenzimmer im Klinikum Dortmund, Standort Mitte. Sie ist voller Energie, trägt ihr Herz auf der Zunge. Er ist ruhiger, etwas abwartender, aber genauso herzlich und bodenständig. Sie sind ein Team, das merkt man sofort, lachen viel gemeinsam. Es ist angenehm mit ihnen zu sein.

Dass das Ehepaar seit Mitte Juli gemeinsam in Dortmund ist, liegt an einer Vielzahl von Faktoren, Zufälligkeiten und Fügungen. Mit Sicherheit an Heinrichs Beharrlichkeit: „Ich wollte am Anfang nicht im Ausland arbeiten. Das war nicht mein Traum. Ich habe nie drüber nachgedacht. Mein Ehemann sah die Anzeige und ich bewarb mich, damit er aufhört mich damit zu nerven und sich auf andere Dinge konzentriert, weil wir gerade dabei waren unsere Hochzeit zu planen“, berichtet Kaylene lachend.

Aber es lag auch an ihrer Meinungsstärke: „Ich werde nie nach Saudi-Arabien gehen. Ich werde nicht in einem Gefängnis leben. Wenn du gehen möchtest, geh alleine.“ Zwischendurch gibt es auch die Option nach Belgien zu gehen. Beide recherchieren viel, aber so richtig zusagen, tut es ihnen nicht. Dann kommt die „Deutschland-Sache“ und Kaylene ist bereit, dem Ganzen eine Chance zu geben. Jetzt sitzen sie gemeinsam hier.

Trotz toxischer Arbeitsbedingungen in die Metropolen

Geboren sind beide in Südafrika. Heinrich in den 80ern, Provinz Ostkap. Kaylene Anfang der 90er Jahre in der Nordkap-Provinz. Dazwischen und Mittendrin: der Beginn vom Ende der Apartheid, der Rassentrennung in Südafrika und die ersten freien Wahlen 1994, aus denen Nelson Mandela als Präsident hervorgeht. Dennoch sind systematische Ungleichheiten entlang von Hautfarbe, Klassenzugehörigkeit und Geburtsort bis heute ein großes Thema in Südafrika.

Anne Jahn für nordstadtblogger.de

Beide wachsen mit der Erstsprache Afrikaans auf, die eine von elf Amtssprachen Südafrikas ist und die neben Englisch sprachpolitisch während der Apartheid (1948-1994) massiv gefördert wurde, was heute in der Bevölkerung nicht unvergessen ist. Afrikaans ist verwandt mit Niederländisch, beeinflusst von afrikanischen Sprachen wie Zulu und Xhosa sowie Malaiisch. Diese Sprachliche Vielfalt ist nur eine Spur der komplexen Kolonialgeschichte und Zeugnis unterschiedlichster Migrationsbewegungen auch innerhalb des Landes ist. Seit Jahrzehnten zieht es viele junge Menschen in die Metropolen: Durban, Johannesburg, Kapstadt, wo sich die verschiedenen Spracheinflüsse auf der Straße zu ganz eigenen Slangs werden.

Auch Heinrich und Kaylene zieht es in eine der urbanen Zentren: Kapstadt. Er macht 2000 eine Ausbildung im Gesundheitsbereich, arbeitet 16 Jahre lang im OP, in unterschiedlichen Krankenhäusern, um verschiedenen Erfahrungen zu sammeln, sich weiterzubilden, wie er sagt. Sie studiert vier Jahre, arbeitet zwei in der Pädiatrie, zwei in der Entbindung, ein Jahr in der Psychiatrie. Viel Erfahrung, viel Verantwortung, und auch viel Stress und toxische Arbeitsbedingungen, wie sie es beschreibt.

Teilweise ist sie alleine für 32 Patient*innen verantwortlich, begleitet in einer Schicht elf Geburten, ist buchstäblich die Erste die kommt und die Letzte die geht, nimmt den Schlüssel mit nach Hause und schließt morgens wieder auf, wird um sechs Uhr morgens an ihrem Geburtstag in die Klinik gerufen, während ihrer Flitterwochen per Video-Call um Rat gebeten. Eine „Work-Life-Balance“ und Rücksicht auf Belastbarkeitsgrenzen sehen anders aus: „Man sagt sich, lass die Arbeit auf der Arbeit, aber die Dinge tendieren dazu in den eigenen Haushalt einzufließen, in die Beziehungen zu den Kindern. Es ist frustrierend.“

Auf die politische Befreiung folgt nicht die ökonomische

Dafür verantwortlich machen tut sie allerdings nicht ihre Kolleg*innen, sondern die politische Situation. Die Regierung investiert zu wenig Geld in den öffentlichen Gesundheitsbereich. Selbst gut ausgebildete Arbeitnehmer*innen sind häufig tief verschuldet, weil ein Gehalt schlicht nicht reicht, um die Grundbedürfnisse zu decken, gerade dann, wenn größere Teile der Familie an nur einem Gehalt hängen, was in Südafrika keine Seltenheit ist. Neben der grassierenden Arbeitslosigkeit sind vor allem die täglichen Stromabschaltungen, marode Infrastruktur, explodierende Kriminalitätsraten und massive Korruption die größten Herausforderungen.

Auf die politische Befreiung in den 1990er Jahren folgte keine ökonomische. Die Hoffnung auf eine sozialistische Transformation des Landes waren nach den dem Sieg des African National Congress (ANC) 1994, der Partei Nelson Mandelas, hoch. Das Motto lautete damals: „Wachstum durch Umverteilung.“ Doch auf umfangreiche Wohnungsbauprogramme und Elektrifizierung folgte schon bald der neoliberale Schwenk und Debatten, die man so auch aus Deutschland kennt. Man müsse Haushaltsdefizite reduzieren, den öffentlichen Sektor privatisieren und ausländisches Kapital anlocken. Politik, die mit durchschnittlich drei Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr belohnt wurde, aber relativ wenig über die tatsächliche Verbesserung von Lebensbedingungen aussagt. Laut Gini-Koeffizient ist Südafrika, gemessen am Einkommen, das ungleichste Land der Welt.

Eine der zentralen Ursachen: Korruption. Insbesondere unter dem ehemaligen ANC-Politiker und Staatspräsident Jacob Zuma (Amtszeit 2007-2017) wurde das Land regelrecht geplündert. Auch deutsche Firmen beteiligten sich daran. Weit weg von der deutschen Öffentlichkeit wurde SAP erst im Februar zu einer 100 Millionen Euro Entschädigungszahlungen wegen korrupter Praktiken verdonnert. Auf die Jahrzehnte der Korruption folgte im Mai 2024 die größte politische Zäsur der jüngeren Vergangenheit.

Erstmals kann der ANC nicht alleine regieren, sondern bildet nun eine Mehrparteienkoalition über klassische politische Lager hinweg. Neuer und alter Präsident ist der ANC-Politiker Cyril Ramaphosa. Zumindest an der Börse in Johannesburg sorgt die „Regierung der nationalen Einheit“ erstmal für leichten Optimismus. Ob es der Regierung allerdings tatsächlich gelingt die Probleme langfristig und nachhaltig zu lösen, ist noch offen. Viele gut ausgebildete Südafrikaner*innen haben den Glauben daran verloren.

Die Töchter leben bei der Schwester

So haben sich auch Kaylene und Heinrich dazu entschlossen, ihre Heimat zu verlassen, um sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Sie wollen, dass ihre Kinder die Möglichkeit haben, etwas zu tun, wozu sie nie die Möglichkeit hatten: Lebensentscheidungen aus finanzieller Sicherheit heraus zu treffen. Ihre Töchter sind sechs und elf Jahre alt. Erst nach der vollständigen beruflichen Anerkennung im Winter, können sie einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen.

Bis dahin leben die Töchter bei Kaylenes Schwester, 300 Kilometer nördlich von Kapstadt. Was das emotional bedeutet, Familie über Grenzen hinweg zu organisieren, ist schwer zu beschreiben. Kaylene: „Ich rufe jeden Tag an, jeden einzelnen Tag für Stunden. Die Große versteht es besser, denke ich. Aber die Kleine es fühlt sich an, als wäre sie für immer mit meiner Schwester. Es ist frustrierend. Es gibt die Momente, da fühle ich mich wie eine schreckliche Mutter. Ich fühle mich, als hätte ich sie im Stich gelassen und ich habe schon so viel von ihnen verpasst, besonders während der Vorbereitungszeit. Ich habe bis 16 Uhr gearbeitet und dann hatte ich Deutsch-Kurs von 16 bis 21 Uhr. Und dann hatte ich noch all die Dinge im Haushalt zu tun, Kochen, Putzen und all die anderen Aktivitäten und alles was noch so ansteht.“

Anne Jahn für Nordstadtblogger.de

Es gäbe viele traurige Tage, aber dennoch erinnern sie sich immer wieder an das größere Ganze. Beide glauben daran, dass es die Mühen und Entbehrungen am Ende des Tages wert sein werden. Bis dahin übt Kaylenes Schwester weiter Deutsch mit den beiden kleinen Töchtern. Mit Hilfe von Cartoons und Musik versucht sie, die beiden an die Sprache heranzuführen. Sie sprechen über die Dinge, die in Deutschland warten. Ganz weit oben auf der Liste: das Ballon-Museum in Düsseldorf.

Beim Deutschlernen hilft die Ähnlichkeit zum Afrikaans. Satzstruktur und beispielsweise Zahlenfolge sind sehr ähnlich. Manchmal kann es helfen Wörter in Afrikaans auf deutsche Weise auszusprechen und man landet einen Treffer. Aber die Ähnlichkeiten verursachen auch Überforderungen. Beim Telefonieren mit den Angehörigen vermischen sich Englisch, Deutsch, Afrikaans. Und die Ähnlichkeiten reichen natürlich nicht aus, um Mal eben so eine Prüfung auf Deutsch zu schreiben und zu bestehen. Über 14 Monate lang besuchten Kaylene und Heinrich mehrmals die Woche Deutsch-Kurse beim Goethe-Institut. Dabei ist die Sprache nur eine der Voraussetzungen, um als Pflegefachkraft nach Deutschland kommen zu können.

Nach zwei Jahren endlich in Dortmund

Um ein Visum für die Einreise zu beantragen muss ein unterschriebener Arbeitsvertrag vorliegen, dem natürlich ein Online-Bewerbungsverfahren vorausgeht. Die Berufsabschlüsse und Arbeitserfahrungen müssen nachgewiesen werden, damit im „Defizit-Bescheid“ festgehalten werden kann, in welchem Umfang Anpassungsmaßnahmen und Arbeitsstunden geleistet werden müssen, damit der Beruf anerkannt wird. Man sendet hier ein Dokument. Wartet dort auf eine Antwort. Bei zwei Personen summiert sich die Zeit zusätzlich. Die Visa-Vergaben der deutschen Auslandsvertretungen sind uneinheitlich und nicht immer digital. Insgesamt dauert es über zwei Jahre. Dann den Haushalt auflösen, alles an Eigentum loswerden und verkaufen, was nicht in einen Reisekoffer passt.

Im Juli 2024 kommen sie in Deutschland an. Die ersten Monate bis zur Anerkennung leben sie in der Gemeinschaftsunterkunft des Klinikums am Rombergpark. In der 120-Zimmer fassenden Unterkunft leben neben den vielen internationalen Beschäftigen auch Auszubildende und hospitierende Ärtz*innen. Jede Person hat einen 13 Quadratmeter großen Raum mit eigener Dusche und Bad, dazu eine Gemeinschaftsküche. Es ist eine Umstellung. Beide sind es gewohnt, ihren eigenen Raum zu haben. Mehr Platz zu haben. Eine unersetzliche Hilfe beim Ankommen sind die bestehenden Netzwerke. Befreundete Pfleger*innen aus Südafrika, die schon länger in Deutschland leben, helfen bei allen möglichen Fragen: wie Medikamente bei der Einreise beschriftet sein müssen und wo es das beste Lammfleisch in Dortmund gibt (natürlich in der Nordstadt). Unterstützung, die die beiden irgendwann an die nächsten Generation Pfleger*innen weitergeben wollen.

Anerkennungsprüfung nach 16 Jahren Arbeitserfahrung

Anne Jahn für nordstadtblogger.de

Seit September besuchen beide zweimal die Woche, dienstags und donnerstags, den Online-Unterricht, um sich auf die Anerkennungsprüfung vorzubereiten. Für Heinrich ist das nach über 16 Jahren Arbeitserfahrung im OP ein bisschen merkwürdig, eigentlich kann er alles Praktische. Aber es geht um medizinische Fachbegriffe und darum, so schnell wie möglich selbstsicher und unabhängig in der neuen Umgebung zu arbeiten.

Für Heinrich auf den Orthopädie-Stationen B23 und B43. Für Kaylene in der Kinderklinik und Kinderchirurgie. Gerade in der Anfangszeit ist der Arbeitsalltag eine seltsame Mischung aus manchmal unterfordert sein, vielleicht sogar gelangweilt, angesichts der im Vergleich „einfacheren“ pflegerischen Tätigkeiten und einer inneren Anspannung, Prägung aus vorheriger Zeit, die immer noch in ihnen drin ist: „Es ist eine Umstellung Man ist so daran gewöhnt, dieses Gewicht auf den Schultern zu tragen. Es ist wie ein Trauma. Der Schalter ist noch nicht umgelegt, dass da eine Kollegin ist, auf die ich mich verlassen kann. Dass ich mich nicht schuldig fühlen muss, wenn ich irgendwas anfrage. Hier hat man die Zeit das zu tun, was Pflege eigentlich sein sollte“, sagt Kaylene.

Das gesellschaftliche Leben in Dortmund ist in vielerlei Hinsicht eine Überraschung. Es ist viel mehr von kultureller Diversität geprägt, als gedacht. Kaylene scherzt, dass sie bei den Sprachvoraussetzungen gedacht hätte, dass höchstens zehn Leuten die Einreise nach Deutschland genehmigt worden wäre. Zu ihrem Erschrecken ist es zudem heiß und trocken. Das schneeweiße Winter-Wunderland, mit rennenden Kindern um Weihnachtsbäume lässt noch auf sich warten. Und auch in einer anderen Hinsicht scheinen die Deutsch-Kurse des Goethe-Instituts Gerüchte zu verbreiten. Die Deutschen seien gar nicht so schlecht gelaunt, unfreundlich und verschlossen. Ganz im Gegenteil: Sie zeigen sich außerordentlich hilfsbereit.

Angesprochen auf die nahe Zukunft sehen beide intensive Lernmonate vor sich. Heinrich würde nach all dem Stress gerne auch mal durchatmen. Einfach irgendwo mit dem Zug hinfahren, sich auf eine Bank setzen, Zeit haben Dinge  zu verarbeiten und Deutschland besser kennenzulernen, als nur den Weg zur Arbeit, zum Lidl und zur Gemeinschaftsunterkunft am Rombergpark. In diesem Punkt sind sie sich nicht ganz einig.

Dennoch sind die nächsten Schritte klar: Prüfungen bestehen, dann im Laufe des nächsten Jahres die Anerkennungsurkunde erhalten, die beiden Töchter nachholen und dann ein richtiges Zuhause finden. Vielleicht eine 70 oder 80 Quadratmeter große Wohnung, nicht zu weit weg vom Krankenhaus, in der Nähe gute Schulen für die Kinder. Kaylene: „Ein Teil von dir ist hier in Deutschland und der andere Teil ist in Südafrika. Ich glaube, ich werde mich erst richtig wohl fühlen, wenn sie hier sind.“ Aktuell fehlt ihnen noch die mündliche Prüfung, um die Anerkennung zu erhalten.


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