Fachtagung im Dortmunder U mit Workshops, Vorträgen und Diskussionen

Facettenwechsel: Antisemitismus im Wandel? Zwischen Israelhass und Verschwörungsmythen

Eine intensive Fachtagung fand im Dortmunder U statt: Antisemitismus im Wandel? Zwischen Israelhass und Verschwörungsmythen“.

Im Jahr 2021 verzeichneten Sicherheitsbehörden bundesweit 3028 antisemitische Straftaten. Dabei handelt es sich um die höchste Zahl seit Beginn der Erfassung in der polizeilichen Kriminalstatistik. Zwei Formen des Antisemitismus sind derzeit besonders populär: der israelbezogene Antisemitismus und antisemitische Verschwörungsmythen. Im Rahmen der Fachtagung „Antisemitismus im Wandel?“ setzten sich mehr als hundert interessierte Menschen im Dortmunder U-Turm mit aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus intensiv auseinander.

Zahlreiche Teilnehmer:innen beschäftigten sich mit Antisemitismus

Der Fachtag startete im Kinosaal des Dortmunder U. Paul Mentz, Projektleiter von „U-Turn – Wege aus dem Rechtsextremismus und Gewalt“, eröffnete die Veranstaltung. Moderiert von der Journalistin Shelly Kupferberg begrüßten auch der Beauftragte für Demokratie und Vielfalt der Stadt Dortmund Manfred Kossack und der Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden Westfalen-Lippe Zwi Rappaport die rund 110 interessierten Zuhörer:innen.

Die Workshops fanden verteilt im Dortmunder U statt. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

Nach dem Vortrag „Kritik des Antisemitismus heute: Zwischen Verschwörungsideologien und dem Hass auf Israel“ von Prof. Dr. Stephan Grigat folgte eine Mittagspause mit koscherem und veganem Essen. Gestärkt starteten die Teilnehmer:innen anschließend in die zweistündigen Workshops, die sie sich im Vorfeld ausgesucht hatten.

Verteilt im gesamten Dortmunder U-Turm fanden sechs verschiedene Workshops statt, von denen drei einen pädagogischen Schwerpunkt hatten. Die Fachtagung endete mit einer von der Journalistin Shelly Kupferberg moderierten Podiumsdiskussion. Veranstaltet wurde der Tag von „Adira“, „BackUP“, den „Quartiersdemokraten“, „U-Turn“ und der Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie der Stadt Dortmund.

Stimmung gegenüber Jüd:innen aufgeheizt – Auswirkungen des Gaza-Konflikts

Paul Mentz äußerte in seiner Eröffnungsrede, die Stimmung gegenüber Jüd:innen habe sich seit 2014 enorm verändert. Doch woran liegt das? Im Juli 2014 führte die israelische Luftwaffe nach mehreren Deeskalationsversuchen eine Verteidigungsoperation gegen die Hamas und andere Terrororganisationen im Gazastreifen durch.

Mit Fragen wie dieser beschäftigten sich die Workshops. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

Der bewaffnete Konflikt im Nahen Osten habe fatale Folgen für Jüd:innen in ganz Europa: Es sei vermehrt zu körperlichen Angriffen und antisemitischen Straftaten gekommen. Im Rahmen von pro- palästinensischen Demonstrationen wurden Parolen wie „Hamas, Hamas, Juden ins Gas!“ skandiert, deutsche Synagogen und Jüd:innen wurden vermehrt körperlich und verbal angegriffen, informieren die Israelische Botschaft und der Zentralrat der Juden auf ihren Internetseiten.

Hinzu kämen seit der Pandemie die „Coronaleugner:innen“, die zum Teil antisemitische Verschwörungsideologien verbreiteten, so Mentz. Um das angstfreie, jüdische Leben in Dortmund zu etablieren, müsse die Zivilgesellschaft mit der Stadt an einem Strang ziehen. Daher freue er sich über diesen Fachtag, „der uns in Zukunft optimistischer blicken lässt.“

Manfred Kossack, Beauftragter für Demokratie und Vielfalt der Stadt Dortmund, äußerte in seiner Rede zu Beginn des Tages, er hoffe, dass die Teilnehmer:innen gestärkt und geschärft in ihren Alltag zurückkehrten. Denn die Blicke zu schärfen „für das Erkennen und Eintreten für die Sache“ läge den demokratischen Fraktionen im Rat sehr am Herzen.

Antisemitismus und Rassismus – wo liegt da eigentlich der Unterschied?

Zu Beginn der Fachtagung hielt Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, einen aufschlussreichen Vortrag mit dem Titel „Kritik des Antisemitismus heute: Zwischen Verschwörungsideologien und dem Hass auf Israel“.

Um Antisemitismus als solchen zu erkennen und ihm entgegentreten zu können, erklärte Grigat zunächst den Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus – denn Antisemitismus ist keineswegs gegen Jüd:innen gerichteter Rassismus.

Aufkleber gegen Antisemitismus Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Der zentrale Unterschied sei der, dass beim Antisemitismus Jüd:innen überwertig portraitiert werden, wobei Rassismus sich gegen Menschen richtet, die als minderwertig angesehen werden, erläuterte Grigat. So befürchteten Antisemit:innen, Jüd:innen könnten die Welt beherrschen. Rassist:innen hingegen würden ihrem Feindbild absprechen, dies jemals erreichen zu können.

Zudem spiele beim Rassismus die sexuelle Omnipräsenz eine große Rolle. So würden die von Rassismus betroffenen Menschen auf die Natur reduziert und als Tiere betrachtet, die ihren Sexualtrieb nicht kontrollieren könnten, informierte Grigat. Antisemit:innen unterstellten Jüd:innen hingegen hinterhältige, emotionale und psychische Heimtücke. In Bezug auf die sexuelle Komponente würden Jüd:innen daher als heimtückische Verführer:innen gesehen.

Diese Unterscheidung zwischen überwertigem und minderwertigem Feind erörterte Grigat am konkreten Beispiel des Nationalsozialismus: Das Volk der Slawen habe man in dem „Vernichtungskrieg“ aus rassistischen Motiven zwar zerstören wollen, die Jüd:innen habe man aber aufgrund der unterstellten Überlegenheit und aus Angst vor einer Weltverschwörung bis auf das letzte Baby komplett auslöschen wollen.

Historische Judenfeindlichkeit: der Ursprung des Islamischen Antisemitismus

Prof. Dr. Stephan Grigat im Kinosaal des Dortmunder U Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

Seine Ausführungen zum islamischen Antisemitismus begann Prof. Dr. Stephan Grigat mit einem historisch-religiösen Exkurs. Als Ursprung der traditionellen islamischen Judenfeindschaft nannte er die Schlacht von Chaibar. Was geschah dort? Laut der islamischen Geschichtsschreibung soll der Prophet Mohammed im Jahr 628 einen Feldzug gegen die von Jüd:innen besiedelte Oase Chaibar im heutigen Saudi-Arabien begonnen haben.

Die jüdische Bevölkerung beugte sich der Forderung, die Hälfte ihrer Erträge an die Muslime abzugeben, die in der Schlacht gekämpft hatten, um in Chaibar weiterleben zu dürfen. Professor Grigat nannte dies eine systematische Unterdrückung, die zur Folge hatte, dass Jüd:innen als unterlegen angesehen wurden. Nichtsdestotrotz oder gerade weil sie als unterlegen galten, konnten Jüd:innen im Nahen Osten über viele Jahrhunderte ein friedliches Leben führen, in dem Pogrome eine Ausnahme darstellten, betonte Grigat weiter.

Das Publikum hörte gespannt zu. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

„Im Wesentlichen lautet die Anschuldigung, die Juden hätten (…) Muhammad nicht als den von Gott auserwählten Propheten anerkannt. Außerdem wird der Vorwurf erhoben, Juden würden bei den von ihnen getätigten Geldgeschäften betrügen. Diese Koranstellen, die bis in die Gegenwart hinein immer wieder aus ihrem historischen Zusammenhang gelöst und wortwörtlich verstanden wurden und werden, bilden im Islam die Grundlage für eine Judenfeindschaft, die „einen integralen Bestandteil des religiösen Selbstverständnisses“ darstellt“, informiert die Broschüre „Antisemitismus im Islamismus“ des Verfassungsschutzes aus dem Jahr 2019.

Als in den 1920er Jahren zahlreiche europäische Jüd:innen nach Palästina auswanderten, hätten gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jüd:innen und Muslimen erstmals stark zugenommen, heißt es weiter. Grund sei, dass die Jüd:innen in wirtschaftliche und politische Konkurrenz mit der arabischen Bevölkerung geraten seien.

Vor allem der islamische Rechtsgelehrte von Jerusalem, Mohammed Amin el-Husseini, habe enge Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten gepflegt und in Radioansprachen offen gegen Jüd:innen gehetzt. Aber auch in der ägyptischen „Muslimbruderschaft“ (MB) hätten arabische Übersetzungen europäischer judenfeindlicher Schriften ab den 1930er Jahren weitere Verbreitung und großen Anklang gefunden.

Iran – ein antisemitisches Regime schürt Hass gegen Israel

„Nein zur islamischen Regierung“ Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

„Das „Feindbild Judentum“ bildet einen zentralen Pfeiler, auf den sich die Argumentationen aller islamistischen Gruppierungen stützen“, heißt es in der Broschüre des Verfassungsschutzes. Grigat teilte diese These und belegte sie mit Beispielen.

Das islamistische Regime des Irans, das seit 1979 an der Macht ist, sei das gefährlichste Regime weltweit, äußerte Grigat in seinem Vortrag. Seit über 40 Jahren versuche der Staat Massenvernichtungswaffen zu erlangen, um den „Eliminatorischen Antizionismus“ umsetzen zu können. So stünde in Teheran eine Uhr, die die Zeit bis zur endgültigen Vernichtung Israels herunter zähle, geplant für das Jahr 2048 zum 100-jährigen Jubiläum Israels.

Die „Bildungsstätte Anne Frank“ machte kürzlich in dem Online-Beitrag „Die üblichen Verdächtigen – Wie das Regime im Iran die Proteste mit Verschwörungsideologien bekämpfen will“ auf den Israelbezogenen Antisemitismus des Iran aufmerksam. Der Tod einer jungen kurdischen Iranerin hatte jüngst für massive landesweite Proteste gesorgt. Die Verantwortlichen für den feministischen Aufstand seien amerikanische und israelische Agenten, habe Ali Chamenei, religiöses und politisches Oberhaupt des Iran erklärt.

Es wurden öffentlich Kopftücher verbrannt. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

„Die Schuldsuche bei anderen soll ablenken von massiver Unzufriedenheit mit der Islamischen Republik (…) Das Regime knüpft dabei an alte Feindbilder an: Im Iran gehört die Vernichtung Israels, das hier nur als „zionistisches Gebilde“ bezeichnet wird, zur Staatsdoktrin“, heißt es in dem Beitrag. Weil den iranischen Frauen nicht zugetraut würde, die Proteste selbst organisiert zu haben, unterstelle das Regime, im Auftrag mächtiger jüdischer Hintermänner zu handeln.

Der Hass auf Israel knüpfe an uralte Verschwörungstheorien an, nach denen die Juden über den US-Imperialismus die Weltherrschaft durch das Zersetzen anderer Staaten erlangen wollten. Zudem organisiere der Iran regelmäßig geschichtsrevisionistische Konferenzen, bei denen die Relativierung oder Leugnung des Holocausts im Mittelpunkt stünde. Auch Prof. Dr. Stephan Grigat berichtete, dass das iranische Regime den Holocaust in allen Fraktionen leugne.

Was versteht man unter Antizionismus und Israelbezogenem Antisemitismus?

Prof. Dr. Stephan Grigat ging in seinem Vortrag auch näher auf Antizionismus und israelbezogenen Antisemitismus ein. Antizionismus bezeichnet die Ablehnung der jüdischen Nationalbewegung (Zionismus) und der Existenz Israels als jüdischer Nationalstaat, mit dessen Gründung im Jahr 1948 Jüd:innen eine sichere Zufluchtsstätte vor Antisemitismus erlangten. Grigat nannte Antizionismus eine „geopolitische Reproduktion des Antisemitismus“.

Im „Brauturm“ fand ein Workshop statt, der sich mit Israelbezogenem Antisemitismus beschäftigte. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

„Adira“, die Antidiskriminierungsberatung und Intervention bei Antisemitismus und Rassismus, informiert über Antisemitismus nach 1945: „Die Shoah (Holocaust) mit ihrer systematischen Ermordung der europäischen Jüd:innen markierte den negativen Höhepunkt in der Geschichte des Antisemitismus. (…) Allerdings galt er nach 1945 in seinem bisherigen Auftreten als tabuisiert und musste daher kommunikative Umwege gehen.“

Eine Form von subtilem Antisemitismus ist der Israelbezogene Antisemitismus, der häufig als Israelkritik abgetan wird. Wie verbreitet Israelbezogener Antisemitismus in Deutschland ist, zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmannstiftung – 36 Prozent der Bundesbürger setzen die israelische Politik gegenüber den Palästinensern mit der Behandlung von Juden im Nationalsozialismus gleich.

Über den Gaza-Konflikt informiert die Israelische Botschaft in Berlin online in einem umfangreichen Bericht unter https://embassies.gov.il/berlin/AboutIsrael/the-middle-east/Pages/Der-Gaza-Konflikt-2014.aspx

Israelkritik oder Israelbezogenen Antisemitismus? – der 3D Test

Israelbezogener Antisemitismus auf einem Wahlplakat der Dortmunder Partei „Die Rechte“ Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Der Taschenratgeber „Was ist Antisemitismus und was kann ich dagegen tun“ von „Adira“ informiert umfassend über historisch geprägte Formen des Antisemitismus und erläutert ein Hilfsmittel, um antisemitische Äußerungen in Bezug auf Israel zu erkennen: Der 3D-Test.

Wird israel dämonisiert, deligitimiert oder mit doppelten Standards bemessen, handele es sich um Antisemitismus.

Dazu gehören beispielsweise die Behauptung, Israel sei kein „richtiger Staat“ oder eine einseitige Schuldzuweisung im israelisch-palästinensichen Konflikt.

Verschwörungstheorien – die Angst vor einer jüdischen Weltherrschaft

„Verschwörungstheorien liefern eine alternative Interpretation konkreter Phänomene oder Ereignisse, die (meist) im Widerspruch zu gängigen Erklärungen steht. Dabei folgen sie teils hochkomplizierten Denkmodellen. Oft fällt es schwer, sie durch reelle Einwände zu entkräften, da jeder Gegenbeweis selbst als Teil der vermeintlichen Verschwörung gedeutet werden kann. Sind solche Theorien Ausdruck eines größeren Deutungszusammenhangs und eines geschlossenen Weltbilds, dann lassen sie sich auch als Verschwörungsideologien bezeichnen“, definiert AndersDenken, die „Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“.

Der Workshop „Gefühlte Wahrheit“ beschäftigte sich mit Verschwörungsmythen. Foto: Paulina Bermúdez für nordstadtblogger.de

Nicht jeder Verschwörungstheorie lägen antisemitische Motive zugrunde, man bedenke die zahlreichen Legenden um eine angebliche Inszenierung der Mondlandungen oder um die Ermordung des US-Präsidenten John F. Kennedy, heißt es weiter. Jüd:innen würden jedoch seit jeher mit Macht und Einfluss assoziiert. Antisemitische Zuschreibungen und Unterstellungen seien dabei höchst variabel und reichten von Vorwürfen von „Christusmord“ und „jüdischen Brunnenvergiftungen“ im Mittelalter über vorgebliche Umsturzpläne und Revolution in der Neuzeit bis hin zur heimlichen Kontrolle von Medien und Finanzwelt. Das antisemitische Pamphlet „Die Protokolle der Weisen von Zion“, das den Mythos einer „jüdischen Weltherrschaft“ verbreite, sei ein bis heute äußerst populärer Klassiker des internationalen Antisemitismus.

Corona-Proteste in der Dortmunder Innenstadt Foto: Leopold Achilles für nordstadtblogger.de

Seit dem Beginn der Corona-Pandemie ist die „Querdenken-Szene“, bestehend aus Corona-Leugner:innen und Impfgegner:innen immer wieder mit Antisemitismus-Vorwürfen konfrontiert worden. Paradebeispiele für die Relativierung des Holocausts waren im Zuge der deutschlandweiten Corona-Proteste das Anheften von „Ungeimpft-Judensternen“ und Redner:innen wie „Jana aus Kassel“, die sich öffentlich mit der Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus Sophie Scholl verglich.

Der Gedankensprung von dem Glauben, Jüd:innen strebten eine Weltherrschaft an, hin zu der Idee, ein Mittel sei die „inszenierte Corona-Pandemie“, hatte zur Folge, dass beispielsweise das Medium „KenFM“ von Ken Jebsen, einem der Hauptakteure der Szene vom Verfassungsschutz beobachtet und schlussendlich auch von der Medienanstalt Berlin-Brandenburg gesperrt wurde.

Befindet sich der Antisemitismus denn nun derzeit im Wandel? Das Fazit: Antisemitismus existiert seit Jahrhunderten, seine Formen verändern sich, je nach historischem und politischem Kontext – nur ein reger Austausch kann helfen Antisemitismus zu erkennen, um ihn aus unserer Gesellschaft zu verbannen.

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