
Während viele Politiker*innen über Abschiebungen statt über die Notwendigkeit von Zuwanderung, die soziale Teilhabe von Migrant*innen oder gar über die Anerkennung ihrer Leistungen für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“ sprechen – schauen wir auf die Menschen, die tatsächlich etwas gegen den Pflegenotstand tun: ausländische Pflegekräfte am Dortmunder Klinikum.
Es ist Spätsommer in Dortmund und ein ungewöhnlich heißer Tag für September. Die Temperaturen erreichen über 30 Grad. Vor dem Klinikum Mitte herrscht reges Treiben: Taxis fahren vor, Patient*innen und Angehörige sitzen vor der Klinik, rauchen und unterhalten sich. Wir werden am Eingang von Tina Erdtmann empfangen, die hier am Klinikum Mitte als Pflegebereichsleitung für die Augenklinik und Hals-Nasen-Ohren-Station arbeitet. Sie empfängt uns herzlich: „Nennt mich ruhig Tina.“
Situation in der Pflege
Mit Tina zusammen geht es in den 4. Stock, auf Station A54, Hals-Nasen-Ohren. An der Tür zum Stationszimmer klebt ein ver.di-Sticker mit der Aufschrift: „Wenn wir Frauen die Arbeit niederlegen, steht die Arbeit still.“ Erinnerungen werden wach an den großen Streik der Pfleger*innen in sechs nordrhein-westfälischen Unikliniken 2022. 79 Tage lang hatten damals, noch unter dem Eindruck der Corona-Pandemie, Pflegekräfte in Aachen, Bonn, Düsseldorf, Essen, Köln und Münster auf die katastrophalen Zustände in der Pflege hingewiesen und für verbindlichere Personalschlüssel, bessere Dokumentation der Arbeitsbedingungen und einen (Zeit-)Ausgleich für die Belastungen gekämpft.
Das Besondere am Streik damals: auch Reinigungspersonal, Beschäftige aus Ambulanzen, Laboren, dem Transport und der Verwaltung schlossen sich an. Mit Erfolg. Für die patient*innennahen Bereiche konnten Verbesserungen erreicht werden. In Dortmund wurde damals nicht gestreikt. Zwar mache sich der Pflegenotstand und Fachkräftemangel auch hier bemerkbar, aber das kommunale Klinikum habe sich früh genug auf den Weg gemacht, den Problemen entgegenzutreten, so Ines Schulte Pflegedienstleiterin am Dortmunder Klinikum.
Leistungen würdigen
Dass der Beruf der Pflegefachkraft, früher Krankenschwester genannt, immer noch überproportional von Frauen ausgeübt wird, daran hat auch der Streik 2022 nichts geändert. Unser Eindruck auf Station A54 deckt sich mit den im Mai 2024 von der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Zahlen. Demnach waren 82% der insgesamt 1,69 Millionen Pflegekräfte in Deutschland Frauen, knapp mehr als die Hälfte (53,74%) davon in Teilzeit.

Und obwohl die Arbeitsbelastung in der Pflege sehr hoch ist, Pfleger*innen deshalb im Schnitt häufiger krank sind als andere Berufsgruppen und auch die demographische Altersstruktur keine Ausnahmen kennt, waren 2023 in der Pflege knapp 10000 Menschen mehr beschäftigt als noch im Vorjahr. Wie kommt dieser Anstieg zustande?
Eine passende Antwort und Ergänzung für den VERDI-Sticker könnte lauten: „Auch wenn wir Pfleger*innen aus dem Ausland die Arbeit niederlegen, steht die Arbeit in Deutschland still.“ Denn das Wachstum 2023 ging ausschließlich auf den Zuzug ausländischer Pflegerinnen*innen zurück. Ihr Anteil wuchs von fünf Prozent im Jahr 2013 in zehn Jahren auf 16 Prozent, vor allem aus Ländern außerhalb der EU.
Fakt ist: Deutschland kann seinen wachsenden Bedarf an Care- und Sorge-Arbeit nur durch den Zuzug von ausländischen Arbeitskräften bewerkstelligen. Diese Leistung wird allerdings in der öffentlichen Debatte um Einwanderung kaum bis gar nicht erwähnt. Politiker*innen vieler Parteien im Bundestag reden lieber über Abschiebungen statt über die Notwendigkeit von Zuwanderung (in allen systemrelevanten Wirtschaftsbereichen) oder über die soziale Teilhabe von Migrant*innen gar über die Anerkennung ihrer Leistungen für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“.
Die Zeit in Tunis
Eine dieser Menschen, die ihre Heimat verlassen, um in Deutschland zu arbeiten, ist Abir Bouslah. Sie ist 27 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in der tunesischen Hauptstadt Tunis. Gut gelaunt kommt sie nach nur drei Stunden Schlaf zu unserem Interview ins Stationszimmer. Nachtschicht ist Alltag im Klinikum. Die nächsten zwei Tage hätte sie frei, deshalb sei der Schlafmangel kein Problem. Unser Gewissen ist etwas erleichtert. Ins Stationszimmer knallt die Hitze, trotz Jalousie, ordentlich rein. Abir freut sich über das Interesse und fängt an zu erzählen. Es wird schnell klar, es ist eine längere Geschichte, denn Migrationsbiographien, wie die von Abir, sind komplex, verlaufen nicht immer nach Plan und verlangen von den Menschen einiges ab.
Rückblick: Tunis 2017. Abir macht Abitur und studiert direkt im Anschluss daran an der Mahmoud el Materi Universität. Ihr Ziel ist das Diplom im Gesundheits- und Pflegebereich, das sie nach drei Jahren erreicht. Das Studium beinhaltet auch viele Praktika in verschiedenen Krankenhäusern. Im Anschluss an ihr Studium fährt sie während der Corona-Pandemie im Krankenwagen mit, versorgt neben COVID-Patient*innen auch andere Notfälle wie Schlaganfälle. Außerdem arbeitet sie für die französische NGO Médecins du Monde.
So sammelt Abir unterschiedlichste Erfahrungen im medizinischen Bereich und ihr gefällt die Arbeit sehr. Doch ihr fällt auf: die Arbeitssituation für Beschäftigte und Patient*innen im Gesundheitswesen sind untragbar. Obwohl Tunesien gut ausgebildete Ärzt*innen und Pflegekräfte hat, die weltweit arbeiten und Erfahrungen sammeln, mangelt es an vielem: Gerätschaften, Materialien, Medikamenten. Menschenleben werden weiterhin an erste Stelle gestellt, aber man muss improvisieren, spontan Lösungen finden, sagt Abir. Die Ursachen dafür, wie sie betont, sind politische.
Politik für wen?
Die ehemalige französische Kolonie, einst betitelt als „Leuchtturm-Land“ des arabischen Frühlings 2011, macht seit vielen Jahren eine schwere wirtschaftliche und institutionelle Krise durch. Nach der Revolution hatte sich die Situation für viele Tunesier*innen kaum verbessert, tendenziell sogar verschärft. Inflation und Staatsverschuldung stiegen. Es gab immer wieder Versorgungsengpässe bei Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Benzin, wie Abir berichtet. Internationale Firmen verließen das Land. In dieser Situation kam 2019 Präsident Kais Saied an die Macht, der versprach, vor allem der verarmten Landbevölkerung mehr politisches Gewicht zu geben und die „echten Ziele“ der Revolution umzusetzen.
Saied stützte sich bei seinen politischen Vorhaben nicht, wie vorher in Tunesien üblich, auf eine Partei oder Mehrheit im Parlament. Ganz im Gegenteil: es entwickelte sich ein offener Konflikt mit anderen politischen Akteur*innen, der 2022 in einer neuen Verfassung mündete, die dem Präsidenten weitreichende Macht- und Entscheidungsfreiheiten ermöglichte. Kritiker*innen sehen hierin eine faktische Aufhebung der Gewaltenteilung und beklagen ein autoritäres System, dass die demokratischen Errungenschaften von 2011 missachtet.
Für die Bundesregierung und die Europäische Union ist der tunesische Machthaber dennoch ein wichtiger Partner bei der „Kontrolle von Migration“. Seit 2015 bilden deutsche Bundespolizist*innen Mitglieder des tunesischen Grenzschutzes und der Nationalgarde aus. Zudem werden Fahrzeuge und Ausrüstung geliefert. Laut Bundesinnenministerium flossen in diesem Rahmen bereits 31 Millionen Euro nach Tunesien. Das gemeinsame Ziel ist Abschreckung. Laut Recherchen des Bayrischen Rundfunks, des Spiegels und der Recherche Organisation Lighthouse Reports kommt es immer wieder zu Einschüchterungen und tunesische Sicherheitskräfte verschleppen Geflüchtete in die Wüste.

Auch innenpolitisch bleibt Saied seine politischen Versprechen schuldig. Erdrückende Kreditlasten des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Korruption begrenzen den finanziellen Handlungsspielraum erheblich, weshalb er vor allem auf ein markt-liberales Programm setzt. Maßnahmen die bei den Menschen kaum ankommen, wie Abir berichtet: „Nach der Revolution? Kamen viele Dinge. Aber man kann kein Geld verdienen. Man kann in Tunesien nicht gut leben. Die politische Situation entwickelt sich wie in Ägypten. Ich finde das schlimm. Wir versuchen die Situation zu verbessern, aber…“
Junge Tunesier*innen in der Welt
Ganz die Zuversicht verlieren, tut Abir nicht, aber wie viele junge Tunesier*innen entscheidet sie sich dazu, das Land zu verlassen. Die Wege führen in unterschiedlichste, vor allem, reichere Länder. Auch in Abirs Familie spannen sich die Netzwerke über Kontinente. Ihre Familie ist nach Deutschland, Frankreich, Belgien und Dubai gegangen und dabei in unterschiedlichen Bereichen tätig, neben der Pflege auch in der IT-Branche und in Ingenieurs-Berufen.

Seit Dezember 2023 ist sie nun hier im Klinikum-Mitte und seit April 2024 offiziell anerkannt. Im Oktober begann sie zudem eine Weiterbildung zur Praxisanleiterin. Die Anerkennung mach auch finanziell einen Unterschied: nach dem TVöD geht es von 2718 Euro auf knapp 3500 Euro brutto. Das Dortmunder Klinikum sei das beste in Nordrhein-Westfalen, sagten viele Kolleg*innen und auch Abir stimmt zu. Viele tunesischen Kolleg*innen in ganz Deutschland berichten von Problemen: von Rassismus-Erfahrungen in Bremen und Leipzig, von Arbeitskräftemangel andernorts.
In Dortmund sei das nicht so, zumindest nicht hier auf Station. Mit den alten Kolleg*innen aus Paderborn ist sie noch immer in Kontakt. Sie besuchen sich gegenseitig regelmäßig in ihren Städten. Auch mit den neuen Kolleg*innen versteht sich Abir gut. Hier auf Station fühlt sie sich wohl. Und die Sympathie beruht auf Gegenseitigkeit. Als wir Fotos machen, treffen wir immer wieder Kolleg*innen von Abir. Es wird sich herzlich gegrüßt und gescherzt. Allgemein ist die Stimmung auf Station locker.
Unser Besuch stößt auf viel Gegeninteresse und neugierige Nachfragen. Dass die Integration ausländischer Pflegekräfte am Dortmunder Klinikum gut klappt, hängt eng mit dem Team von Pflegedienstleiterin Ines Schulte und engagierten Pflegebereichsleiter*innen wie Tina Erdtmann zusammen. Seit 2021 sind über 150 Fachkräfte in elf Einreisegruppen nach Dortmund gekommen.
Die Aufgaben vor der Einreise und Betreuung während und nach dem Ankommen gleichen, neben der vielen bürokratischen Arbeit, in vielerlei Hinsicht der einer Sozialarbeiterin, wie Ines Schulte berichtet: das Willkommenheißen am Flughafen, die Betten im Wohnheim beziehen sowie das Einkaufen von Lebensmitteln für die erste Woche, Meldebescheinigungen bei der Ausländerbehörde beantragen, um Konten bei der Sparkasse einzurichten, das einmal in der Woche an beiden Standorten stattfindende Sprachcafé organisieren, Beschäftigte und Führungskräfte über die Prozesse und Abläufe informieren, Auszubildende in Anti-Rassismus-Workshops weiterbilden. Die Liste ließe sich fortführen und verdeutlicht: ohne die unermüdliche und emphatische Arbeit von Menschen wie Ines Schulte und Tina Erdtmann, auch über die reguläre Arbeitszeit hinaus, würde es nicht funktionieren.
Ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen ist
Abir fühlt sich mittlerweile sehr wohl in Dortmund. Das Leben sei attraktiv, gerade für jüngere Leute. In Dortmund leben viele Tunesier*innen. Sie kennt auch viele Marokkaner*innen, die immer für ein Spaß zu haben sind. Seit fast einem Jahr wohnt Abir nun in ihrer eigenen Wohnung. Zentral gelegen, in der Nähe der Reinoldi-Kirche. Von dort sind es zu Fuß nur etwas über zehn Minuten zum Klinikum.
Ihre Zukunft sieht Abir in Deutschland. Sie kann sich vorstellen mit ihrem Freund, der in Kassel lebt, irgendwann in Düsseldorf eine kleine Familie zu gründen. Dort leben und arbeiten auch Cousinen und Cousins von ihr. Das sei auch nur 40 Minuten entfernt und sie wäre näher am Rhein. Denn Abir ist ein absoluter Wassermensch. Sie mag das Gefühl in den Rhein zu schauen oder am Meer zu stehen, wie in Tunis. Einmal im Jahr geht es zurück nach Tunesien. Alle aus der Familie versuchen, zur selben Zeit im Jahr zu Hause zu sein. Familie bedeutet Abir Alles. Tunesien bleibt ihre Heimat und Tunis ihre Lieblingsstadt. Dieses Heimatgefühl sei nur schwer in Worte zu fassen.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!