
Braucht es für ein funktionierendes Rechtssystem noch Gefängnisse? Dieser Frage widmete sich ein Projekt der FH Dortmund in Zusammenarbeit mit der JVA Dortmund. Grundlage war die gleichnamige achtteilige ARD-Serie „A Better Place“, die das Gedankenexperiment einer Gesellschaft zeigt, in der Freiheitsstrafen ausgesetzt und durch sozialtherapeutische Betreuung ersetzt werden. Den Abschluss bildete eine Podiumsdiskussion mit Expert:innen, in der ein Ausschnitt der Serie gezeigt und anschließend über die Realitätsnähe sowie gesellschaftliche Relevanz der dargestellten Perspektiven diskutiert wurde.
Perspektivwechsel auf Straffälligkeit im Rahmen des Projekts
Es ist ausnahmsweise nicht der Gottesdienst, der am vergangenen Freitag (28. November) zahlreiche Menschen in die Anstaltskirche der Dortmunder JVA lockte. Genauso wenig saßen nur Inhaftierte der JVA im Publikum.

Es fanden sich ebenso Student:innen der FH Dortmund sowie Interessierte von außerhalb ein, um sich ebenfalls der Frage im Rahmen der Podiumsdiskussion „A Better Place – Eine Welt ohne Gefängnis?“ zu widmen, ob es nach wie vor Gefängnisse für eine funktionierende Resozialisierung und ein funktionierendes Rechtssystem braucht.
Grundlage der Diskussion ist ein Projekt von sieben Studierenden der FH Dortmund, die sich gemeinsam mit 12 Inhaftierten der JVA im vergangenen Monat an vier Nachmittagen trafen, um die gleichnamige ARD-Miniserie, auf der das Projekt basiert, anzuschauen und gemeinsam zu diskutieren.

„Ziel war es, verschiedene Blickwinkel auf Straffälligkeit zu werfen und in den Diskurs zu gehen“, erklärt Gefängnis-Seelsorgerin Barbara Pense, die ebenfalls das Projekt begleitet hat.
Auftakt der Veranstaltung gab Nina Gygax, Leiterin der JVA Dortmund, die sich ebenfalls auf dem Podium mit zahlreichen Expert:innen befand. „Ich weiß nicht, wie oft ich hier noch stehen muss, wenn wir am Ende zum Entschluss kommen, dass wir keine Gefängnisse brauchen“, eröffnete die Leiterin humorvoll die Veranstaltung.
Bürgermeister und Kriminologin streben eine „Welt ohne Gefängnisse“ an
Um dem Publikum ein Bild von der Serie zu verschaffen, wurde zunächst ein Ausschnitt auf einer Leinwand präsentiert. Die achtteilige ARD-Serie „A Better Place“ spielt in einer fiktiven Stadt. Dort starten Bürgermeister Amir Kaan und Kriminologin Petra Schach das Resozialisierungsprogramm TRUST mit dem Ziel einer „Welt ohne Gefängnisse“.

Die Folge: Das lokale Gefängnis wird geschlossen, Hunderte Insassen werden entlassen und erhalten statt Haft Unterstützung durch Arbeit, Wohnung, Therapie und Begleitung. Dabei werden die Folgen dieses Experiments aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Zu den freigelassenen Straftätern gehört unter anderem der junge Nader, der einen Job als Autohändler annimmt und sich von seiner kriminellen Schwester Yara distanzieren will.
Ein weiterer Ex-Insasse ist beispielsweise Mark Blum, der nach seiner Entlassung versucht, das Vertrauen seiner Ehefrau Eva – einer TRUST-Mitarbeiterin – und seiner Kinder zurückzugewinnen, indem er ein normales Familienleben aufbaut, wobei er lange Zeit verschweigt, was genau zu seiner Haft geführt hat. Die Betroffenenperspektive wird durch Nesrin dargestellt, deren Sohn von einem Mörder getötet wurde, der nun frei ist. Sie ringt mit Zweifeln am Programm und zeigt damit das Spannungsverhältnis zwischen den Ängsten der Opfer und der gesellschaftlichen Integration auf.
Besonders die Opferperspektive wies Realitätsnähe auf
Die fiktive Geschichte weist jedoch Schnittpunkte mit der Realität auf, wie einige Expert:innen auf dem Podium betonten. Besonders deutlich wurde die Opferperspektive bzw. die Reaktion der Bürger:innen, wenn es keine Haftanstalt mehr gäbe.

„Strafvollzug ist keine Vergeltung, sondern ein Akt der Resozialisierung. Sobald jedoch der Blick der Opfer betrachtet wird, kommt die Vergeltung wieder ins Spiel, was im Film deutlich wird“, erläuterte Caroline Ströttchen, Abteilungsleiterin Vollzug im Justizministerium Nordrhein-Westfalen.
Eine Perspektive, die auch Volker Marek aus seiner Arbeit beim Weißen Ring kennt und die sich im Film deutlich widerspiegelt: „Man sieht, was aus Menschen wird, wenn sie Opfer werden. Den Weißen Ring gibt es seit etwa 50 Jahren, und seitdem sehen wir, wie die Menschen leiden, wie hilf- und orientierungslos die Opfer und Betroffenen wirken – was im Film gut abgebildet wurde.“
Täter-Opfer-Ausgleich in der praktischen Umsetzung
Eine zentrale Rolle in der Arbeit mit den Opfern spielt in der Serie der sogenannte Täter-Opfer-Ausgleich, der Kernbestandteil des TRUST-Programms ist.

Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) ist ein freiwilliges Verfahren im Strafrecht, bei dem Täter:innen und Opfer mit Hilfe eines neutralen Vermittlers (Mediators) über die Straftat, ihre Folgen und eine Wiedergutmachung sprechen.
Ziel ist es, den Konflikt außergerichtlich zu lösen – durch Geld, Arbeit, Entschuldigung oder andere Maßnahmen – und so mildernd auf die Strafe zu wirken.
In der Realität seien die Ressourcen für einen Täter-Opfer-Ausgleich, wie er in der Serie gezeigt wird, zwar verfügbar, doch sieht die Anspruchnahme in der Praxis anders aus, erklärte Ströttchen. „Oftmals scheitert der Opfer-Täter-Ausgleich daran, dass sich entweder die Opfer noch zu stark betroffen fühlen oder von der Täterseite nur schwer ein Eingeständnis der Tat erfolgt“, fügte Christian Petlalski, Leitender Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Dortmund, hinzu.
Stigmatisierung und fehlende Lobby: Resozialisierung in der Praxis
Deutlich wird in der Serie ebenfalls, wie viele Maßnahmen und Schritte es für die Resozialisierung von Inhaftierten in die Gesellschaft bedarf. „Die große Utopie, die wir gesehen haben, ist das Übergangsmanagement“, so Gygax.

Ein großer Kampf für die Entlassenen sei es, ein Teil der akzeptierten Gesellschaft zu werden, wobei wesentliche Unterschiede vorliegen: eine fehlende Lobby – wie fehlender gesicherter Wohnraum, keine materielle Absicherung, kein fester Beruf oder erschwerte Zugänge zu einem Therapieplatz – die zu einer Stigmatisierung führen, erzählte Anne Holzkämper aus ihrer Arbeit in der Straffälligenhilfe.
Gepaart sei dies mit einer „institutionalisierten Verdrängung“, die mit der Haft einhergeht, so Holzkämper. Viele Menschen seien von Vorurteilen behaftet, die sich häufig nicht bewahrheiten, fügte Holzkämper hinzu. Ihr ginge es nämlich, bevor sie ihre Arbeit in der JVA angefangen hatte, ebenso.
Umso wichtiger sei es aus ihrer und Gygax Sicht, in den Austausch mit Inhaftierten im Rahmen von Veranstaltungen zu gehen und „kein Geheimnis aus ihnen zu machen“. Denn was viele laut Gygax vergessen: „Es sind gewöhnliche Menschen, die zum Beispiel ihre Nachbarn sein könnten oder Personen, die auf die gleichen Konzerte gehen.“
Hat Deutschland ein zu privilegiertes Strafsystem?
Wenn es im öffentlichen Diskurs um das Strafsystem Deutschlands geht, wird jedoch häufig die Frage gestellt, ob Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein privilegiertes Strafsystem aufweise. Besonders der offene Justizvollzug gerät dabei in den Blick.

Denn der offene Justizvollzug ermöglicht es Gefangenen, tagsüber außerhalb der Anstalt zu arbeiten, sich ausbilden zu lassen oder Kontakte zur Außenwelt zu pflegen, beispielsweise zur Familie oder zu Arbeitgebern.
Dies soll die Eigenverantwortung fördern und die Möglichkeit bieten, sich bereits außerhalb der Anstalt ein eigenes Leben (wieder-)aufzubauen. Zudem vereinfache er den Übergang aus der Haft. Diskussionen über die Effizienz des Systems entbrannten meist erst, wenn Personen entgegen der Prognose erneut straffällig würden, erklärte Ströttchen.
„Eine Gesellschaft muss das aushalten. Wie viele sich erfolgreich ein Leben in Freiheit aufgebaut haben, fällt dann oft unter den Tisch – das sieht man auch deutlich in der Serie“. Als Vorbild nennte sie das norwegische Strafsystem, das auf Rehabilitation statt Bestrafung setzt: Einzelsäume, Arbeit, Bildung und stufenweiser Übergang zum offenen Vollzug führen zu einer Rückfallquote von rund 20 Prozent innerhalb von zwei Jahren, im Vergleich zu 46–50 Prozent in Deutschland. „Solche Maßnahmen sollten auch in Deutschland weiterentwickelt werden“, fügte sie hinzu.
Zukunft ohne JVA – die Meinungen teilen sich
„Doch schaffen wir nun die JVA ab?“, warf Anette Reher als Moderatorin der Veranstaltung ketzerisch am Ende in den Raum. Laut Lange ist eine Unterteilung in „Entweder-Oder“-Schubladen zu kurz gegriffen – also entweder Inhaftierung oder Resozialisierungsmaßnahmen.

Inhaftierung allein sei nicht zielführend, der Strafanspruch signalisiere jedoch den Bürger:innen die Einhaltung von Recht und Ordnung und stärke das Vertrauen in den Staat.
Petlalski schloss sich dem an und ergänzte, dass Opfer spürbare Sanktionen erwarten, die ohne Freiheitsstrafen nicht immer gegeben seien. Graebsch betonte, dass die Abschaffung von Gefängnissen nicht einfach umsetzbar sei.

Sinnvoll sei jedoch die Nutzung bestehender Maßnahmen wie die Öffnung des Vollzugs oder die Anpassung von Strafmaßen. Holzkämper und Ströttchen verwiesen auf die Bedeutung tragfähiger Strukturen für die Resozialisierung:
Gefängnisse könnten nur abgeschafft werden, wenn gleichzeitig Systeme aufgebaut werden, die entlassene Personen unterstützen und eine selbstverantwortliche Rückkehr in die Gesellschaft ermöglichen. Abschließend stellte Gygax klar, dass eine sofortige Abschaffung der JVA derzeit nicht möglich sei, unter anderem wegen der Unterbringung gefährlicher Personen.
Gleichzeitig betonte sie die Notwendigkeit, bestehende Strukturen weiterzuentwickeln und zusätzliche Maßnahmen zur Unterstützung der Resozialisierung zu prüfen.

