Morde von Neonazis in Dortmund könnten neu bewertet werden

Neue Strategie des LKA: Untersuchung von „Grenzfällen“ auf rechtsextreme Hintergründe

Neonazi-Aufmarsch zum Nationalen Antikriegstag in Dorstfeld 2007 - einer der Anlässe für den Aktionsplan. Archivbild: Alex Völkel
Die Botschaft ist seit Jahren klar: Die Neonazis sehen sich im „Krieg gegen ein Scheiß-System“. Archivbild: Alex Völkel für nordstadtblogger.de

Seit vielen Jahren kritisieren Antifaschist:innen und Demokrat:innen, dass rechtsextrem motivierte Tötungen nicht als rechtsextremistische Straftaten gewertet werden. Das gilt auch für die bekannten Dortmunder Fälle. Lediglich der Mord an Mehmet Kubaşık gilt – auch erst nach der Selbstenttarnung des NSU – als rechtsextremer Mord. Bei anderen Fällen ist das nicht so. Das könnte sich aber bald ändern.

Das LKA NRW öffnet sich für „nicht ausschließlich polizeiliche Perspektiven“

Klare Botschaft: Polizei, Verfassungsschutz und Innenministerium arbeiten bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus Hand in Hand.
Klare Botschaft im Dezember 2018 in Dorstfeld: Polizei, Verfassungsschutz und Innenministerium arbeiten bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus Hand in Hand. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Im Rahmen der veränderten Strategie und der Neuausrichtung des Landeskriminalamtes, die sich verstärkt der Bekämpfung des Rechtsextremismus widmet bzw. widmen soll, lässt das NRW-Innenministerium auch alte Fälle neu bewerten – insbesondere auf eine mögliche politische Dimension von Tötungsdelikten. 

Möglich wurde das, weil neben der „deutlichen Stärkung der personellen und sachlichen Ressourcen“ auch ein „Generationenwechsel sowie die Öffnung für nicht ausschließlich polizeiliche Perspektiven“ stattgefunden habe, verdeutlicht das Innenministerium auf Nachfrage.

Das sei durch Mitarbeiter aus der Wissenschaft – Politikwissenschaftler, Psychologen und Kommunikations- und Medienwissenschaftler – gegeben. „Diese neu gewonnene Diversität und die neuen Strukturen haben es erlaubt, einen unvoreingenommenen Blick aus der heutigen Perspektive auf das Tatgeschehen einzunehmen“, heißt es laut Tagesspiegel.

NRW-Innenminister ordnet die Prüfung von „Grenzfällen“ an

Im Juni hatte der in dieser Woche im Amt bestätigte NRW-Innenminister Herbert Reul die Prüfung von weiteren „Grenzfällen“ angeordnet, wobei die Zahl nicht abschließend ist. Die Zahl der Fälle könnte noch wachsen, bestätigte LKA-Pressesprecher Udo Rechenbach auf Nachfrage von Nordstadtblogger.de. 

„Dortmund - Streichelzoo für Nazis“ - die Reaktion der Antifa auf die Urteile war eindeutig.
„Dortmund – Streichelzoo für Nazis“ – die Reaktion der Antifa auf die Urteile war damals eindeutig. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Um welche Fälle es sich bei den 25 „sogenannten“ Grenzfällen mit 30 Todesopfern handelt, will das LKA aber explizit nicht mitteilen. Denn das Projekt habe keine Tagesaktualität und man sei gerade im Aufbau – und der Erlass erst wenige Wochen alt. 

Für die Überprüfung und Neubewertung habe man neun Monate veranschlagt. Zwischenstände zu Ergebnissen wolle man ebenso wenig nach außen geben wie Informationen, welche Fälle derzeit zum Prüfauftrag gehörten – oder eben (noch) nicht, so Rechenbach zu Nordstadtblogger.

Doch gerade aus Dortmunder Perspektive ist das spannend: Denn die Ermordung des Punkers Thomas Schulz („Schmuddel“) durch einen stadtbekannten Neonazi im Jahr 2005 wurde ebenso wenig als politisch motiviert eingestuft wie die drei Morde durch den Neonazi Thomas Berger an Polizist:innen in Dortmund und Waltrop im Jahr 2000.

Tödliche Kontrollen – Neonazi feuerte ohne Vorwarnung auf die Polizisten

Der Gedenkstein für den Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Arndt
Der Gedenkstein für den Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Marcus Arndt

Am 14. Juni 2000, etwa kurz vor 10 Uhr, entdeckten der Polizeibeamte Thomas Goretzky (35) und seine Kollegin Nicole Hartmann (25) eine nicht angeschnallte Person in einem anthrazitfarbenen BMW. Was wie eine normale Verkehrskontrolle begann, endete in einem tödlichen Desaster.

Als die Polizeibeamten dem Fahrer des BMW zu verstehen gaben anzuhalten, gab dieser Gas, um sich der Kontrolle zu entziehen. Nach einer kurzen Verfolgungsjagd kamen die Fahrzeuge in Dortmund-Brackel, im Unteren Graffweg zum Stehen.

Als der Polizeikommissar Thomas Goretzky ausstieg, eröffnete der Fahrer des BMW ohne jegliche Vorwarnung das Feuer auf den Beamten und traf ihn tödlich, seine Kollegin Polizeimeisterin Nicole Hartmann wurde in den Oberschenkel getroffen und überlebte schwer verletzt.

Der Fahrer des BMW floh daraufhin in Richtung Waltrop. Dort stieß er auf die 34-jährige Polizeibeamtin Yvonne Hachtkemper und ihren 35-jährigen Kollegen Matthias Larisch von Woitowitz, die mit ihrem Streifenwagen am Randstreifen an einer Kreuzung parkten und den Verkehr kontrollierten.

Ausriss aus der Bild-Zeitung - die Morde machten bundesweit Schlagzeilen.
Ausriss aus der Bild-Zeitung – die Morde machten bundesweit Schlagzeilen. (Repro)
Unvermittelt eröffnete der Fahrer des BMW das Feuer und schoss dreimal aus seinem Fahrzeug heraus auf die beiden Polizeibeamten. Beide wurden tödlich getroffen. Trotz grüner Ampel hielt der BMW-Fahrer extra an, um auf die Beamten zu feuern und die tödlichen Schüsse abzugeben.

Am späten Nachmittag wurde der Wagen an einer Landstraße im Münsterland aufgefunden. Der Fahrer hatte sich mit einem Kopfschuss selbst getötet. Es war der 32-jährige Dortmunder Rechtsradikale Michael Berger.

DVU-Mitglied pflegte Kontakten zu anderen rechten Parteien

Berger hatte erst kurze Zeit zuvor seinen Führerschein entzogen bekommen  – und vermutlich war das der Grund für die Tat. So sahen es später jedenfalls die Ermittlungsbehörden. Berger war Mitglied der rechtsextremen Deutschen Volksunion (DVU) und hatte gute Verbindungen zu den Republikanern und der NPD.

Gezieltes Schießen lernte er bei der Bundeswehr. Nach seiner Entlassung jobbte Berger als Taxifahrer und Vertreter. Er geriet ständig mit dem Gesetz in Konflikt und wurde mehrfach verurteilt. Zuletzt wurde Berger wegen Fahrens ohne Führerschein zu drei Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

Mit Aufklebern wie diesen feierte die Neonazi-Szene die Morde ihre Kameraden. (Repro)
Mit Aufklebern wie diesen feierte die Neonazi-Szene die Polizisten-Morde ihres Kameraden. (Repro)

Michael Berger trug seine rechtsextreme Gesinnung offen zur Schau. So soll er gut sichtbar eine Kette mit Hakenkreuz getragen haben und er ließ sich die Zahl „88“ auf dem Hinterkopf einrasieren – ein Code der rechten Szene. Die „8“ steht für den achten Buchstaben im Alphabet – und „HH“ bedeutet „Heil Hitler”.

Auch Kontakte zu dem Dortmunder Neonazi Siegfried „SS Siggi“ Borchardt hatte Michael Berger – wie auch zu vielen anderen bekannten Größen der rechtsextremen Kreise in NRW. Die Dortmunder Neonazi-Szene würdigte die feigen Polizisten-Morde von Michael Berger mit zynisch-menschenverachtenden Aufklebern, Flugblättern und Sprüchen: „Berger war ein Freund von uns” und „3:1 für Deutschland“ war dort zu lesen.

Ermittlungsbehörden konnten keine politische Motivation der Taten erkennen

Doch die ermittelnden Behörden erklärten damals, dass Michael Berger ein depressiver Waffensammler gewesen sei, der aus Angst wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und einer Bewährungsstrafe die drei Beamten erschossen habe. Eine politisch motivierte Tat wurde damals ausgeschlossen. Dies macht eine Landtagsanfrage, die der Minister für Inneres und Kommunales NRW u.a. wie folgt beantwortete, deutlich:

Der Gedenkstein für von Neonazi Michael Berger ermordeten Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Marcus Arndt
Der Gedenkstein für von Neonazi Michael Berger ermordeten Polizisten Thomas Goretzky in Brackel. Foto: Marcus Arndt für nordstadtblogger.de

Frage: Aus welchen Gründen genau wird die Erschießung der drei Polizeibeamten in Dortmund im Jahr 2000 durch den Neofaschisten/Rechtsextremisten Michael Berger nicht in den Statistiken über sogenannte „Politisch motivierte Kriminaltät“ geführt?

Antwort: (…) Nach dem Ergebnis der umfangreichen Ermittlungen war Motiv der Tat sehr wahrscheinlich Verdeckungsabsicht, da der Genannte – obwohl mehrfach einschlägig vorbestraft – den PKW ohne Fahrerlaubnis geführt hatte und sich außerdem in seinem Wagen und in seiner Wohnung mehrere Schusswaffen befanden, für deren Besitz er keine Erlaubnis hatte. Anhaltspunkte für eine politische Tatmotivation im Sinne der Definition “Politisch motivierte Kriminalität” lagen nicht vor. Vermutungen in den Medien über einen Zusammenhang zwischen der Tat und Hinweisen auf Aktivitäten des Genannten in der “rechten Szene” ließen sich nicht verifizieren. Das Verfahren wurde aufgrund des Todes des B. eingestellt. Hinweise auf eine Beteiligung Dritter an den Tötungsdelikten gab es nicht. (Quelle: Drucksache 15/1866)

Wirkliche Aufklärung gab es nicht, müsste es besser heißen. Niemand hatte damals Interesse daran, mögliche Verbindungen zu Neonazi-Netzwerken und weitere Hintergründe aufzuklären. Der Selbstmord sorgte für einen schnellen Schlussstrich. Jetzt – 23 Jahre später – könnte sich das ändern.

Tödlicher Messerstich ins Herz am Ostersonntag 2005

Ein weiterer „Grenzfall“ sollte – ja müsste – die Ermordung von Thomas Schulz sein. Am 28. März 2022 jährte sich der Todestag von Thomas Schulz zum 17. Mal – heimtückisch erstochen von Sven K., einem damals 17-Jährigen Intensivstraftäter und Rechtsextremisten.

Rückblick: Am Ostermontag 2005 (28. März 2005) verließ der 31-jährige Punker und Familienvater Thomas Schulz – Freunde nannten ihn „Schmuddel“ – den Dortmunder Keuningpark. Gemeinsam mit anderen Punkern fuhr er mit der U-Bahn zur Kampstraße, um zu einem Konzert in der linken Szene-Kneipe „Hirsch-Q“ zu gehen, wo mehrere Bands auftraten.

Thomas Schulz wurde am 28. März 2005 in der U-Bahnstation Kampstraße erstochen.
Thomas Schulz wurde am 28. März 2005 in der U-Bahnstation Kampstraße erstochen.

An der U-Bahn-Station Kampstraße trafen der Punker und seine Gruppe auf den damals 17-Jährigen Sven K., welcher der rechtsextremen „Skinheadfront Dorstfeld“ angehörte, sowie auf seine 16-jährige Begleiterin. An den Rolltreppen der U-Bahn-Station Kampstraße kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung.

Während die anderen Punks im Anschluss weiter zum Konzert zur Hirsch-Q zogen, trat Thomas Schulz den Heimweg an – er fühlte sich nicht wohl. Am Bahnsteig angekommen, traf er erneut auf den jungen Neonazi. Schulz wollte ihn für seine Beschimpfungen zur Rede stellen. Doch Sven K. zog unvermittelt ein Messer und stach dem unbewaffneten Familienvater Thomas Schulz durch die Brust ins Herz.

Sven K. floh daraufhin mit seiner Begleiterin in eine angekommene U-Bahn, der Fahrer stoppte allerdings die Bahn und fuhr nicht ab. Daraufhin setzte der Neonazi seine Flucht zu Fuß fort und wurde schließlich am Hauptbahnhof von der Polizei gefasst.

Gericht: Eine Tat mit Heimtücke, aber ohne politische Motivation

Thomas Schulz wurde am 28. März 2005 in der U-Bahnstation Kampstraße erstochen.
Gedenken an Thomas Schulz

Am Folgetag erließ das Amtsgericht Haftbefehl wegen Mordes und ordnete die Untersuchungshaft an. Thomas Schulz erlag, trotz aller Bemühungen der Rettungskräfte und Ärzte, noch am gleichen Abend in der Klinik seinen Verletzungen. Schulz hinterließ eine Frau und drei Kinder.

Die damalige Oberstaatsanwältin Dr. Ina Holznagel schloss eine politisch motivierte Tat nicht aus, revidierte jedoch einige Tage später ihre Aussage und stellte klar, dass es sich „rechtlich um einen Mord aus Heimtücke handelt“.

Das Dortmunder Bündnis gegen Rechts kritisierte damals scharf die Aussage Holznagels und betonte in einer Stellungnahme: „Sie schänden jüdische Friedhöfe, marschieren durch die Innenstadt und drohen unverhohlen mit Gewalt gegenüber Antifaschisten. Die Tat ist ein politischer Mord!“

Kurz nach der vorzeitigen Haftentlassung beging er neue Straftaten

Nach der tödlichen Messerattacke auf den Punker Thomas Schulz verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivbild: Völkel
Nach der tödlichen Messerattacke  verbreiteten Neonazis Aufkleber mit dem Motto: Antifaschismus ist ein Ritt auf Messers Schneide. Archivbild: Völkel Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de

Zu sieben Jahre Haft wurde Sven K. damals verurteilt. Und durfte 2010 vorzeitig die Haftanstalt verlassen – wegen einer angeblichen günstigen Sozialprognose. Die Prognose war für den Rechtsextremisten „so günstig“, dass dieser bereits wenige Wochen nach seiner Entlassung weitere Straftaten beging.

Er beteiligte sich an einem Angriff auf die Szenekneipe „Hirsch-Q“, beging schwere Körperverletzungen an zwei migrantischen Jugendlichen und einem Sicherheitsmitarbeiter auf dem Dortmunder Weihnachtsmarkt 2011 und beschimpfte Polizeibeamte als „dreckige Juden“.

Ende 2015 musste Sven K. erneut für 37 Monate in Haft. Frisch aus „Justitias Armen“ entlassen, ließ es sich der durchtrainierte Neonazi nicht nehmen, bei der rechtsextremistischen Veranstaltung „Kampf der Nibelungen“ in Ostritz 2018 wieder aufzutauchen – als Ordner. Auch in diesem Fall gibt es erheblichen Klärungsbedarf.

NSU-Morde wurden erst nach Selbstenttarnung als rechtsextrem bewertet

Immer wieder gab es Demonstrationen zum Gedenken an die Ermordeten des NSU – verbunden mit der Forderung nach Aufklärung. Foto: Klaus Hartmann

Nur ein Mordfall ist bisher eindeutig Neonazis zugeschrieben worden – aber auch erst seit dessen Selbstenttarnung: Das Trio Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatte fast 14 Jahre lang im Untergrund gelebt. In dieser Zeit ermordeten die Männer neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine Polizistin. In Dortmund traf es Mehmet Kubaşık.

Sie begingen außerdem zwei Sprengstoffanschläge und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle. 2011 flog das Trio auf. Die beiden Rechtsterroristen Mundlos und Böhnhardt wurden tot in einem ausgebrannten Wohnmobil gefunden. Beate Zschäpe wurde im Juli 2018 vom Oberlandesgericht München als Mittäterin wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.

Bis heute sind die Hintergründe nicht aufgeklärt – und das, obwohl die damalige Bundeskanzlerin vollständige Aufklärung versprach. Stattdessen wurden Akten vernichtet oder aber mit Sperrfristen von 30 Jahren und mehr versehen, um V-Männer und „Verfassungsschützer“ zu decken.

Dutzende von rechtsextremen Taten in Deutschland

Daher machen seit Jahren Bündnisse und Antifa-Gruppen – nicht nur zum Todestag von Thomas Schulz und Mehmet Kubaşık – darauf aufmerksam, dass nicht nur „in Dortmund rechte Gewalt anhält, sondern sich seit 2015 auch bundesweit weiter Bahn bricht“, hieß es einem Aufruf zur Demonstration zum Gedenken an Thomas Schulz.

"Kein Vergeben - Kein vergessen" ist das Motto der Antifa zur Erinnerung an die Ermordung von Thomas "Schmuddel" Schulz.
„Kein Vergeben – Kein vergessen“: Motto der Antifa zur Erinnerung an die Ermordung von Thomas „Schmuddel“ Schulz.

Neben den zahlreichen Angriffen auf Geflüchtete und Linke verdeutlichten dies insbesondere die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz, der Nazi-Mord an Walter Lübke sowie der rechte Terror in Halle und Hanau, heißt es weiter.

Mit den Kundgebungen, Schweigemärschen und Demonstrationen machen sie auf die Kontinuität und Gefahr rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt – nicht nur in Dortmund – aufmerksam.

Zu lange seien die Dimensionen rechter Gewalt nicht erkannt, die Auswirkungen verharmlost worden. Niemand könne mehr die Augen davor verschließen und es gelte sowohl auf den Straßen, als auch im Parlament für die Errungenschaften demokratischer Grundwerte zu kämpfen, sie zu verteidigen und konsequent gegen rechtes Gedankengut und rechte Gewalt zu kämpfen, betonte die Autonome Antifa im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für Thomas Schulz.

Es könnte sein, dass das jetzt sogar das Innenministerium und das LKA in Nordrhein-Westfalen verstanden haben könnten…

Demonstration der Antifa zum Gedenken an Thomas "Schmuddel" Schulz. Archivbild: Alex Völkel
Demonstration der Antifa zum Gedenken an Thomas „Schmuddel“ Schulz am Jahrestag der Ermordung in Dortmund. Foto: Alexander Völkel für nordstadtblogger.de
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Reaktionen

  1. Überlebende und Hinterbliebene rechter Todesfälle werden bei der Bewältigung der Tatfolgen alleine gelassen – das Projekt „ToreG NRW“ (PM)

    Kurz nach zwei Uhr morgens am 26. Januar 1994 legten bis heute unbekannte Täter*innen mindestens drei Feuer vor der Tür einer Notunterkunft in Köln, in der unter anderem serbische Roma-Kriegsflüchtlinge untergebracht waren. Acht Menschen werden bei dem Brandanschlag teils lebensgefährlich verletzt, die 12-jährige Jasminka sowie ihre 61-jährige Großtante Raina erliegen wenige Wochen später ihren schweren Verletzungen.

    Trotz deutlicher Indizien auf ein möglicherweise rassistisches und antiziganistisches Tatmotiv schließt die Polizei bereits einen Tag nach dem Anschlag ein „fremdenfeindliches“ Motiv aus. Ermittelt wird lediglich wegen schwerer Brandstiftung und nicht wegen Mordes oder Totschlags.

    Am 26. Januar 2024 jährt sich der Brandanschlag nun zum dreißigsten Mal. Bis heute kämpfen die Überlebenden des Anschlags um Anerkennung und Wiedergutmachung, bis heute sind die Verstorbenen nicht offiziell als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt.

    „Der Brandanschlag von damals darf nicht in Vergessenheit geraten. Auch als Mahnung, da solche rassistischen Taten auch heute passieren“, sagt ein Überlebender des Brandanschlages rückblickend. Weiter beschreibt er die damaligen Ereignisse als „die bis heute größte Katastrophe meines Lebens“.

    Nach nunmehr knapp 30 Jahren kämpfen die Betroffenen und Überlebenden des Brandanschlages weiter und hoffen auf die Möglichkeit, dass ihr Fall rückwirkend dennoch als rechtsmotivierter Brandanschlag bewertet wird. Sicher können sie sich dessen jedoch nicht sein:

    Im Juni 2022 wurde das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen durch das Ministerium des Inneren des Landes Nordrhein-Westfalen beauftragt, im Rahmen des Projektes „ToreG NRW“ (Todesopfer rechter Gewalt NRW) eine längst überfällige Überprüfung von 30 Verdachtsfällen rechter Tötungsdelikte aus den vergangenen 40 Jahren durchzuführen, bei der die derzeit geltenden Definitionskriterien politisch motivierter Kriminalität rückwirkend angewandt werden sollen.

    Aus Sicht der spezialisierten Opferberatungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist diese längst überfällige Neubewertung von Verdachtsfällen rechter Tötungsdelikte ausdrücklich zu begrüßen.

    Durch im Oktober 2023 beantwortete parlamentarische Anfragen wurden nun – kurz vor Abschluss der Projektlaufzeit Ende November 2023 – weitere Details zum Erhebungs- und Bewertungsverfahren des Projektes veröffentlicht.

    Die Antworten des Innenministeriums auf die parlamentarischen Anfragen der SPD-Abgeordneten Christina Kampmann und Sven Wolf zeigen jedoch, dass die derzeitige Projektdurchführung keinesfalls an Sensibilität gegenüber den Überlebenden, Angehörigen und Freund*innen der Getöteten orientiert ist und deren Perspektiven und Erfahrungen bei der Neubewertung der Fälle explizit unberücksichtigt bleiben. Damit missachtet das LKA die derzeit geltenden Kriterien für die Bewertung politisch motivierter Kriminalität, nach denen seit einer grundlegenden Reform der bundeseinheitlichen polizeilichen Erfassungskriterien im Jahr 2001 „bei der Würdigung der Umstände der Tat neben anderen Aspekten auch die Sicht der/des Betroffenen mit einzubeziehen [ist]“. Die Aussage des Innenministeriums, der Projektansatz umfasse „eine retrograde Betrachtung und Bewertung der jeweiligen Fälle anhand der heute gültigen Maßstäbe“ steht damit im offenen Widerspruch zur bundesweit gültigen Definition der politisch motivierten Kriminalität.

    „Vor dem Hintergrund erheblicher behördlicher Erfassungs- und Wahrnehmungsprobleme rechter Tatmotivationen vor und nach dem Jahr 2001 müssen die Perspektiven von Betroffenen, Überlebenden und Angehörigen ein handlungsleitendes Kriterium für die Neubewertung von Fällen sein. Die Tradition der strukturellen Unsichtbarmachung von Erfahrungen Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt wird durch deren Nichteinbeziehung im Projekt ToreG NRW fortgeführt“. (Thomas Billstein, BackUp)

    Die spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in NRW haben nicht zuletzt seit dem Bekanntwerden des Projektes „ToreG NRW“ im Juni 2022 die Einbeziehung von Betroffenenperspektiven in die Neubewertung von Fällen gefordert, ebenso wie die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher und unabhängiger wissenschaftlicher Akteure. Es ist zudem zwingend notwendig, dass Angehörige und Überlebende über den Ausgang einer etwaigen Prüfung ihres Falles informiert werden, um bei Bedarf professionelle Beratungs- und Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen und um rechtliche Ansprüche geltend machen zu können.

    Nachdem mittlerweile durch Medienberichte bereits mindestens drei Fälle öffentlich gemacht wurden, die Gegenstand einer Neubewertung durch das Projekt „ToreG NRW“ sind, ergibt sich laut Innenministerium dennoch „keine Benachrichtigungspflicht hinsichtlich der Hinterbliebenen bzw. Überlebenden“.

    „Innenministerium und LKA müssen gewährleisten, dass Betroffene, Überlebende und Angehörige in einem sensiblen und professionell gestalteten Rahmen über Neubewertungen informiert werden und die ihnen zustehenden Entschädigungsleistungen beantragen können. Eine verantwortungsvolle Aufarbeitung rechter Gewalt darf nicht auf der symbolischen Ebene verbleiben, sondern muss die Lebensrealitäten und Perspektiven der Betroffenen und Überlebenden als Ausgangspunkt haben. Dies ist durch das Projekt „ToreG NRW“ nicht geschehen. Überlebende und Hinterbliebene rechter, rassistischer und antisemitischer Todesfälle werden somit auch weiterhin mit der Bewältigung der Tatfolgen alleine gelassen“. (Fabian Reeker, Projektleitung der Opferberatung Rheinland)

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