
Von außen wirkt es oft wie Chaos, Müll oder Faulheit – doch was sich hinter dem sogenannten Messie-Syndrom verbirgt, ist weitaus komplexer. Verena Schöttling und Michael Meister (Namen von der Redaktion geändert) wissen das aus eigener Erfahrung. Beide kämpfen seit Jahren mit ihrer Sammelleidenschaft, die längst zur Last geworden ist. Nun wollen sie nicht nur sich selbst helfen, sondern auch anderen Betroffenen – mit einer eigenen Selbsthilfegruppe, die sich in Dortmund-Scharnhorst treffen will. In einem offenen Gespräch geben sie Einblick in ihre Gedankenwelt.
Irgendwann übernimmt das Sammeln Überhand
„Messies sind nicht unordentlich, sondern Sammler. Nur das Sammeln nimmt irgendwann Überhand. Nicht das Sammeln ist die Krankheit – sondern dass es überhandnimmt“, stellt Verena Schöttling gleich zu Beginn klar. Der Begriff „Messie“ werde oft falsch verstanden. Es gehe nicht um Unlust am Aufräumen, sondern um tieferliegende emotionale Mechanismen. „Der Hauptaspekt ist: nicht ins Spüren zu kommen. Einsamkeitsgefühle nicht hochkommen lassen. Ich fühle mich nicht einsam – ich habe mein Zeug.“

Auch Michael Meister kennt diese Dynamik: „Es fällt mir schwer, etwas wegzugeben – das ist mit dem Sammeln gepaart.“ Besonders im Ruhestand sei es schlimmer geworden: „Ich habe sehr viel Zeug gebraucht, als ich noch gearbeitet habe. Jetzt finde ich viele Gründe, es nicht wegzuwerfen. Aber das sind alles Ausreden.“
Verena lacht liebevoll: „Messies entwickeln eine Fülle an Ausreden – da braucht man schon Fantasie.“ Als Beispiel zeigt sie sie einen Quadratmeter in ihrer Küche, der voller Einweg-Dosen steht. Zumindest zusammengeräumt und gestapelt hat sie sie schon: „Ich kann die nicht einfach wegwerfen – ich müsste sie erst spülen.“
Nach dem Gespräch stehen sie zumindest schon im Treppenhaus. Und irgendwann gibt es den Anstoß, sie auch runter in die Gelbe Tonne zu bringen…
Dabei sei sie gar nicht immer Messie gewesen: „Auch früher habe ich gesammelt – zum Beispiel Teedosen von Twining. Da war ich noch kein Messie.“ Michael kann das gut verstehen und ergänzt: „Jede Teesorte hatte eine andere Farbe. Das war fast wie Briefmarkensammeln.“
Scham als zentrales Gefühl
Doch irgendwann kippte die Freude in Belastung. „Seit ich reflektiere, dass ich Messie bin, habe ich auch keine Freude mehr am Sammeln.“ Denn die Dinge wurden zur emotionalen Schutzmauer – gegen Einsamkeit, Schmerz, das Leben selbst.

Einig sind sich beide: Zum Messietum gehört fast immer Scham. Verena berichtet: „Leidensdruck entsteht, wenn man sich schämt. Alle meine Bekannten kennen meine Wohnung – auch wenn ich mich schäme.“
Michael dagegen geht nicht so offen damit um: „Ich habe schon lange niemanden mehr hereingelassen. Ich kann keinen Besuch empfangen – deshalb habe ich auch wenig Kontakte.“
Die Isolation verstärke das Problem, sagt Verena. Man wolle nicht fühlen, nicht merken, „wann der Punkt erreicht ist“. Michael berichtet von seiner Einsamkeit nach dem Tod seiner Lebensgefährtin: „Ich bin viel allein. Ich treffe Leute nur außerhalb – aber nach Hause einladen, das geht nicht.“
Gemeinsam aufräumen – gegen die Ohnmacht
In dieser Situation beschlossen beide, etwas zu ändern. Über eine andere Selbsthilfegruppe lernten sie sich kennen, inzwischen arbeiten sie an der Gründung einer eigenen: „Wir haben eine Aktionseinheit gebildet – wir beide. Und das funktioniert erstaunlich gut.“ Inzwischen räumen sie regelmäßig zusammen auf – mit Erfolg: „Wenn man gemeinsam rangeht, ist es viel effektiver. Alleine bleibt man stecken.“

Trotzdem ist Teamarbeit nicht ohne Herausforderungen. Michael klagt: „Sie räumt so schnell weg, dass ich nicht mitkomme. Es geht über meinen Kopf.“
Verena räumt ein: „Tandems können frustrierend sein. Man darf Kritik nicht persönlich nehmen. Und mehrere Stunden am Stück – das wird anstrengend.“ Umso wichtiger sei es, im Wechsel zu räumen.
In der neuen Gruppe setzen sie auf gegenseitige Unterstützung, auch praktisch. „Wenn man aufgeräumt hat, soll das Früchte tragen. Denkfehler und Mechanismen müssen sich verändern – das braucht viel Arbeit.“
Dafür haben sie einen Raum gefunden: Die städtische Begegnungsstätte in Scharnhorst ist schön,. Da gibt es einen Raum mit Blumen, Fenstern und warmem Licht. „Nicht so eine Krankenhausbeleuchtung“, sagt Verena erleichtert. Und das Beste: „Es kostet auch nichts.“
Die Denkweise muss sich ändern
Im Alltag entwickeln sie Strategien, die helfen sollen: Hausaufgaben nach jedem Aufräum-Treffen, To-Do-Listen, kleine Schritte. „Wenn ich länger als eine Minute nach etwas suche, werde ich wahnsinnig. Ich brauche Struktur im Kopf.“

Marie Kondo, die japanische Aufräum-Guru, dient als Inspiration – aber nicht als Dogma. „Ich sortiere bei ihm nur zusammen – ich werfe nichts weg“, geht sie auf die Kritik von Michael ein, wenn sie angeblich seine Dinge zu schnell wegwerfe.
Michael hat eigene Herausforderungen: „Ich esse manchmal im Stehen, weil der Tisch voll liegt. Vieles erduldet man durch Gewöhnung, ohne zu leiden.“

Besonders schwer fällt ihm das Aussortieren von Büchern und Kugelschreibern. „Ich habe unzählige leere Kulis aufgehoben, weil man noch eine Mine reintun könnte.“
Noch schwieriger ist das Aussortieren der Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Kataloge. „Die Bücher warten darauf, dass sie aussortiert werden“, sagt Meister. Da kann Verena sich das Lachen nicht verkneifen: „Bei dir warten die Bücher darauf, aussortiert zu werden – nicht du auf die Bücher!“
Selbsthilfe bedeutet: nicht allein sein
Letztlich ist es genau das, was die beiden antreibt: nicht mehr allein sein mit ihrer Last. „Mit anderen ins Gespräch kommen – das ist so wichtig.“ Und sie wissen: Die Dunkelziffer von Betroffenen ist hoch. „Viele trauen sich nicht, darüber zu sprechen.“

Mit ihrer Gruppe wollen sie Raum schaffen – für Austausch, Verständnis und konkrete Hilfe. Ihr Ziel ist nicht Perfektion, sondern Entwicklung. „Das Messietum ist nur ein Symptom. Im Hintergrund stehen andere Probleme.“
Und wie sieht es mit Angehörigen aus? „Die wollen oft ein Problem gelöst bekommen, sagt Verena. „Aber bei uns geht es erst mal darum, uns selbst zu verstehen.“
Vielleicht ist das die größte Erkenntnis: Wer den Wunsch hat, etwas zu ändern, muss nicht perfekt sein – aber bereit, hinzusehen. Und am besten: nicht allein.
Mehr Informationen:
Neue Selbsthilfegruppe „Messies in Aktion“
- Am 10. Juni findet um 18 Uhr findet das erste Treffen einer neuen Selbsthilfegruppe für Menschen mit Sammelproblemen in Dortmund statt. Angesprochen sind Betroffene, bei denen das Sammeln überhandgenommen hat und die darunter leiden, dass die ursprüngliche Freude daran verloren ging.
- Ziel der Gruppe ist es, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, Verständnis zu finden und gemeinsam aktiv zu werden. Geplant ist auch praktische Unterstützung: Sobald Vertrauen gewachsen ist, sollen auf freiwilliger Basis Aufräum-Tandems gebildet werden, die sich gegenseitig helfen.
- Das erste Treffen wird von der Selbsthilfe-Kontaktstelle Dortmund begleitet. Interessierte können sich dort melden: 0231 52 90 97 oder selbsthilfe-dortmund@paritaet-nrw.org
- Mehr zur Selbsthilfe gibt es hier: www.selbsthilfe-dortmund.de
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
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Hilfe zur Selbsthilfe: In Dortmund existieren derzeit rund 230 Gruppen zu etwa 130 Themen