Sebastian Rose und Sascha Schießl geben Einblicke in das „Abschiebungsreporting NRW“

Bürokratische Hürden, fehlende Transparenz und unklare Verfahren

Sascha Schießl und Sebastian Rose beim Vortrag über das „Abschiebungsreporting NRW".
Sascha Schießl (li.) und Sebastian Rose (re.) hielten einen Vortrag über das „Abschiebungsreporting NRW“. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Abschiebungen stehen im politischen Diskurs häufig ganz oben auf der Agenda. Doch was sich genauer dahinter verbirgt und wie es den Lebensalltag der Betroffenen beeinflusst, beleuchten Sebastian Rose und Sascha Schießl im „Abschiebungsreporting NRW“. Im Rahmen eines Vortrags über das Reporting gaben sie Einblicke in die verschiedenen Realitäten hinter der Praxis, gefolgt von einer anschließenden Diskussion. Eingeladen dazu hatten die Migrationsdienste der AWO in Kooperation mit dem Multikulturellen Forum e.V. und der Koordinierungsstelle für Vielfalt, Toleranz und Demokratie der Stadt Dortmund.

Ein Projekt, das die Perspektive der Betroffenen aufzeigen soll

Wenn es um die Migrations- und Flüchtlingsdebatte in der Politik geht, fällt ein Schlagwort besonders häufig: Abschiebungen. Nicht zuletzt sprach Olaf Scholz 2023 öffentlich davon, dass „endlich im großen Stil“ abgeschoben werden müsse.

Portrait von Sebastian Rose.
Sebastian Rose ist seit 2021 Referent im Projekt Abschiebungsreporting NRW in Köln. Von 2014 bis 2021 arbeitete er als Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Auch Friedrich Merz sprach sich in diesem Jahr dafür aus, dass „Abschiebungen und Rückführungen ab sofort täglich stattfinden müssten und die Zahl endlich größer werden müsse als die Zahl der täglich Einreisenden“, um so nach seiner Auffassung das Problem der Gewalttaten in den Griff zu bekommen.

Im „Abschiebungsreporting NRW“, das 2021 ins Leben gerufen wurde, gehen Sebastian Rose und Sascha Schießl der Abschiebepraxis nach und zeigen die Realität von rund 110 Fällen drohender, versuchter und vollzogener Abschiebungen auf.

„Seit 2014/2015 hat sich die Gesetzeslage verschärft – einhergehend mit einer entsprechenden Rhetorik. Dann entstand die Überlegung, mit öffentlicher Arbeit die Perspektive der Betroffenen aufzuzeigen. Dafür wurde das Projekt gegründet, sozusagen als Pendant: Wir wollten anfangen zu recherchieren und kritisch einzuordnen“, so Rose.

„Es wird wie ein Staatsgeheimnis behandelt“

Denn was häufig nicht bekannt ist: Abschiebungen verlaufen meist im Verborgenen. Das Vorgehen dahinter ist meist intransparent und schwer nachzuverfolgen, was häufig auch die Recherchen im Rahmen des Reportings erschwert, erläutert Rose. So trifft es die Betroffenen meist überraschend und plötzlich. Beispielsweise bräuchten die Behörden für eine Abschiebung Passpapiere oder Passersatzpapiere.

Portrait Sascha Schießl.
Sascha Schießl ist Historiker. Von 2017 bis 2021 arbeitete er als Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

„Die Beschaffung passiert meist ohne Mitwirkung der Betroffenen und unwissentlich derer im Hintergrund“, erklärt Schießl.Zudem sind die Ausländerbehörden häufig überlastet, was dazu führt, dass sie die festgelegten Abschiebezahlen kaum einhalten können. Dadurch kommt es mitunter zu einer willkürlichen Auswahl der Fälle, ergänzt Schießl.

Die Geheimhaltung der Abschiebetermine erschwert die Möglichkeit, rechtzeitig und wirksam gerichtliche Schritte einzuleiten. So gab es bereits Fälle, in denen entgegen Gerichtsentscheidungen abgeschoben wurde, erklärt Rose.

In Fällen, in denen beispielsweise Kinder und Jugendliche von der Abschiebung betroffen waren – was etwa 20 Prozent aller Abschiebungen ausmacht und weniger bekannt ist – stieß Rose bei Nachfrage der Behörden im Rahmen der Recherche immer wieder auf Widerstand. „Die Behörden verweisen dann auf weitere Behörden und sagen, dass sie aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft geben können. Es wird wie ein Staatsgeheimnis behandelt.“ In Fällen, in denen eine straffällige Person abgeschoben wurde, sehe es jedoch anders aus, wie Rose und Schießl schildern. Dies würde wie ein Erfolg behandelt werden und Informationen an die Öffentlichkeit getragen werden.

Abschiebung aus Dortmund: Der Fall Abdullohi Shamsiddin

Ein Fall einer Person aus Dortmund, die abgeschoben wurde, ist der des Familienvaters Abdullohi Shamsiddin. Shamsiddin wurde im Januar 2023 nach über zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland von der Stadt Dortmund nach Tadschikistan abgeschoben – entgegen der wiederholten Warnungen internationaler Menschenrechtsorganisationen sowie von Unterstützer:innen in Deutschland vor der drohenden politischen Verfolgung und Haft dort.

Mehrfach protestierte der Freundeskreis Abdullahi Shamsiddin gegen dessen Abschiebung nach Tadschikistan.
Mehrfach protestierte der Freundeskreis Abdullahi Shamsiddin gegen dessen Abschiebung nach Tadschikistan. Foto: Alexander Völkel für die nordstadtblogger.de

In Tadschikistan wurde der damals 32-Jährige unmittelbar nach der Ankunft zum Opfer des „Verschwindenlassens“: Er war mehrere Tage unauffindbar, danach wurde er festgenommen und Ende März 2023 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, einen oppositionellen Social-Media-Post „geliked“ zu haben, was als „Aufruf zum Extremismus“ ausgelegt wurde.

Shamsiddin galt als Parteimitglied der Oppositionsbewegung IRPT, deren Führung seit 2015 in Tadschikistan verboten ist. Sein Vater Shamsiddin Saidov, der wie seine Mutter mit anerkanntem Flüchtlingsstatus in Aachen lebt, agiert dabei als führender Kader dieser Partei. Seine Familie – seine Ehefrau und zwei Söhne, ein Baby und ein zweijähriges Kind – ist seit der Abschiebung von ihm getrennt. Grund für die Abschiebung war, dass ihm weder seine Furcht vor politischer Verfolgung noch seine familiären Bindungen in Deutschland glaubhaft anerkannt wurden. Zudem spielte eine Rolle, dass Abdullohi Shamsiddin wegen dreier bereits verbüßter Vorstrafen als nicht bleibeberechtigt eingestuft wurde.

Straffällige Personen zuerst? – Keine einheitliche Statistik darüber

Die verbreitete Annahme, dass in erster Linie straffällige Personen abgeschoben werden, ist in der Praxis jedoch schwer nachzuverfolgen, wie Schießl erklärt. So liegt keine einheitliche und vollständige Statistik aus allen Bundesländern vor, wie viele der tatsächlich abgeschobenen Personen straffällig waren.

Die Veranstaltung fand im Caféplus Dortmund statt. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

„Es besteht auch kein politisches Interesse daran, solche Daten überhaupt abzufragen, wenn anschließend keine Statistik darüber geführt wird – unabhängig davon, was unter eine Straftat fällt und was nicht. In einigen Bundesländern würde sogar das Schwarzfahren als Straffälligkeit gelten“, so Schießl.

Dabei fange es immer mit Aussagen an, dass zuerst die kriminellen Personen ausgewiesen werden, da dies in seiner Logik eine höhere Nachvollziehbarkeit unter den Menschen erziele und eine Legitimation dafür biete, führt Schießl weiter aus. In der Praxis ginge es jedoch darum, dass in erster Linie die Anzahl der Abschiebungen in die Höhe getrieben werde, um sie exemplarisch als politischen Erfolg betiteln zu können, „unabhängig davon, ob es sich um einen Straftäter handelt oder nicht.“

„Härter gegen Ausländer“ in der Politik habe „schon immer funktioniert“

Besonders der politische Diskurs und die Berichterstattung formen dabei die Wahrnehmung migrantischer Personen. Als Beispiel führen Schießl und Rose den Messeranschlag in Solingen im August 2024 an, bei dem drei Menschen starben und mehrere verletzt wurden, der breit in überregionaler Presse berichtet wurde. Der Täter war ein 26-jähriger Syrer, der von der Terrormiliz IS reklamiert wurde. Auf der anderen Seite habe es im gleichen Jahr in Solingen einen rassistisch motivierten Brandanschlag im März 2024 gegeben.

Gastarbeiter aus Südosteuropa . Aufnahme aus den 1960er Jahren.
Gastarbeiter aus Südosteuropa . Aufnahme aus den 1960er Jahren. Foto: Stadtarchiv München, RD0668A14

Dabei war eine Frau Hauptverdächtige, die schnell als „verwirrt“ betitelt wurde, erzählt Schießl. Dieser Fall wurde hauptsächlich in der Lokalpresse aufgegriffen und erhielt nicht die gleiche breite mediale Aufmerksamkeit wie der Messeranschlag im August 2024 mit einem mutmaßlich islamistischen Hintergrund. „Kriminalität wird meist der Nationalität zugeschrieben. Häufig fragen Menschen bei Straftätern nach der Nationalität, und wenn die Antwort dann ‚deutscher Staatsbürger‘ ist, fällt die Frage nach dem Vornamen“, so Schießl.

Der Grundsatz „Härter gegen Ausländer“ in der Politik habe „schon immer funktioniert. Das hat es schon in den 70ern oder 90ern bei der Gastarbeiterdebatte funktioniert“, erzählt Schießl und zeigt demonstrativ zwei Schlagzeilen zweier Spiegel-Ausgaben aus dem Jahr 1973 mit der Aufschrift „Die Türken kommen – rette sich, wer kann“ und „Gettos in Deutschland – Eine Million Türken“. „Die ganze Debatte haben wir immer noch, auch wenn nicht mehr in den Worten. Wen es trifft, das wandelt sich dann“, denn während es einst polnische und türkischen Personen waren, sind heute primär Syrer:innen, Iraker:innen und Afghan:innen betroffen.

Unterstützung kann Menschen selbst in Abschiebehaft helfen

Doch auch wenn Personen sich bereits in Abschiebehaft befinden, ist es manchmal noch nicht zu spät, wie Schießl und Rose berichten. Sie erklären, dass es Fälle gebe, in denen Menschen schon in Abschiebehaft gewesen seien und dennoch wieder freigekommen seien, weil es öffentliche Proteste gab und viele Menschen sich für sie eingesetzt hätten.

Blick auf Caféplus von außen.
Zahlreiche Menschen sind zur Veranstaltung erschienen, darunter auch Ehrenamtliche aus der Flüchtlingshilfe sowie Mitarbeitende von Beratungsstellen. Foto: Darya Moalim für Nordstadtblogger.de

Entscheidend sei dabei immer der Zeitpunkt: Es komme darauf an, ob eine Person eine Duldung habe, die Abschiebung drohe oder die Abschiebung schon im Gange sei. In letzterem Fall sei es sehr schwer, den Vorgang noch zu stoppen, selbst Anwält:innen könnten dann nur eingeschränkt intervenieren.

Wichtig sei zudem, dass die Betroffenen und ihre Unterstützer:innen die Strukturen dahinter genau kennen und strategisch vorgehen. Dazu zähle unter anderem, welche Behörde zuständig sei und welche Möglichkeiten die lokale Politik oder Ehrenamtliche hätten, Einfluss zu nehmen.

Öffentlichkeitsarbeit könne wirksam sein, etwa durch Berichte in der Lokalpresse oder durch prominente Unterstützer:innen. Wichtig sei jedoch abzuwägen, ob dadurch eher Druck aufgebaut oder die Behördenpolitik verhärtet werde. Besonders hilfreich seien oft Menschen aus dem direkten Umfeld der Betroffenen, wie Lehrer:innen, Mitschüler:innen, Arbeitgeber:innen oder Sportvereine, die auf lokaler Ebene Aufmerksamkeit erzeugen könnten.

Schießl und Rose berichten von Beispielen, in denen Sportvereine mit einfachen Mitteln viel bewirkt hätten: So habe ein Verein ein Video veröffentlicht, das große Aufmerksamkeit erzeugte, unterstützt von bekannten Fußballspieler:innen, wodurch ein junger Mann, der bereits in Abschiebehaft gewesen sei, wieder freigekommen sei.

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