
In Dortmund sind rund 88.900 Menschen auf Bürgergeld angewiesen – gleichzeitig leben dort 193 Einkommens-Millionäre. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Dortmund (NGG) kritisiert die geplanten Kürzungen beim Bürgergeld scharf und ruft die Bundestagsabgeordneten der Region zum Handeln auf. Statt Einschnitte bei Bedürftigen fordert die Gewerkschaft mehr Einsatz gegen Steuerbetrug und eine gerechtere Steuerpolitik. Auch Reformen bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer stehen auf der Agenda.
Große soziale Kluft in Dortmund: Arm trifft auf Reich
Den 88.900 Bürgergeld-Empfänger:innen in Dortmund stehen 193 Einkommens-Millionäre gegenüber. „Krasser geht es nicht: Die einen müssen jeden Euro dreimal umdrehen. Die anderen wissen nicht, wohin mit ihrem Geld“, sagt Torsten Gebehart, Geschäftsführer der NGG Dortmund. Die Gewerkschaft beruft sich bei den Bürgergeld-Zahlen auf die Arbeitsagentur und bei den Einkommens-Millionären auf das Statistische Landesamt Nordrhein-Westfalen (IT.NRW).
Unter den Bürgergeld-Empfängern seien viele Arbeitslose und Alleinerziehende. Allein rund 30.400 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben nach Angaben der NGG Dortmund in Haushalten, die Bürgergeld beziehen.
Die NGG Dortmund warnt vor den Folgen der Pläne zur Bürgergeld-Kürzung: „Wer in Dortmund auf Bürgergeld angewiesen ist, der droht jetzt noch tiefer in die Armut zu rutschen. Die Bundesregierung will damit Menschen zwingen, den Gürtel noch enger zu schnallen. Dabei ist das letzte Gürtelloch längst erreicht. Gerade auch bei den Aufstockern: Bei Menschen also, die für einen Niedriglohn arbeiten und Bürgergeld als Ergänzung zum Lohn dringend brauchen, um überhaupt über die Runden zu kommen“, so Gebehart.
Appell an die Bundestagsabgeordneten in Dortmund
Schon die Ankündigung der Bundesregierung, beim Bürgergeld in diesem und im kommenden Jahr eine Nullrunde zu fahren – also keinen Inflationsausgleich zahlen zu wollen, bedeute ein reales Minus von rund 5 Prozent beim Bürgergeld, rechnet die NGG Dortmund vor.

„Letztlich ist jede Kürzung beim Bürgergeld mehr oder weniger eins zu eins auch das Geld, das weniger ausgegeben wird – das also in Dortmund als Kaufkraft fehlt“, sagt Gebehart. Die NGG appelliert jetzt an die Bundestagsabgeordneten aller demokratischen Parteien aus Dortmund und der Region, den Sparplänen der Bundesregierung einen Riegel vorzuschieben:
„Es ist unsozial, unfair und es bringt wenig, denen noch etwas wegnehmen zu wollen, die sowieso wenig haben. Stattdessen sollten die, die viel Geld haben, davon wenigstens etwas abgeben. Dann kommt unterm Strich auch mehr Geld für alle dabei heraus.“
Gebehart: „Die wirklichen Sozialschmarotzer sind die Steuerhinterzieher“
Die Kritik der NGG geht über die Kürzungspläne hinaus. Die Gewerkschaft fordert eine Reform der Erbschaftssteuer und kritisiert die fehlende Besteuerung großer Vermögen. „Millionenerben, die keine Erbschaftssteuer zahlen, darf es nicht mehr geben“, fordert Torsten Gebehart. Auch ein höherer Spitzensteuersatz sei überfällig: „Dieser habe in der Ära von Bundeskanzler Kohl (CDU) sogar 56 Prozent betragen. Heute liege der Spitzensteuersatz bei 42 Prozent. Und es gibt nicht einmal eine Vermögenssteuer.“
Außerdem fordere die NGG Dortmund die heimischen Bundestagsabgeordneten auf, den Fokus der Bundesregierung auch auf den Steuerbetrug zu lenken, wenn es darum gehe, zusätzliche Einnahmen für den Bundeshaushalt zu bekommen: „Die wirklichen Sozialschmarotzer sind nämlich die Steuerhinterzieher“, so Torsten Gebehart. Der jährliche Schaden durch Steuerhinterziehung in Deutschland werde vom Bundesrechnungshof auf immerhin 30 bis 50 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.
„Steuer-Experten gehen sogar von weit über 100 Milliarden Euro jährlich aus, die dem Staat durch die Lappen gehen. Es ist höchste Zeit, Steuerbetrug intensiver zu bekämpfen“, sagt Gebehart. Auch Missbrauch beim Bürgergeld müsse der Staat konsequent verfolgen.


Reaktionen
Heiko Holtgrave
Ich stimme der Kritik der NGG in jedem Punkt zu.
Ohnehin sind die Sprüche vom Sozialstaat, der nicht mehr finanzierbar sei, leeres Gerede. Denn wir leisten uns gerade Rüstungsausgaben (wurden wir je dazu befragt?), die alles Bisherige in der Geschichte dieser Republik in den Schatten stellen. Die erwarteten Einsparungen durch rigidere Regeln beim Bürgergeld sind daran gemessen echte Peanuts.
Und ich möchte noch einen drauflegen:
Wieso beschäftigen wir uns nur noch mit der Abwehr von Sparplänen? Wieso fordern wir nicht eine Wiedereinführung der Arbeitslosenhilfe – also einer Lohnersatzleistung, die die Menschen im Falle einer Arbeitslosigkeit besser absichert, wenn sie schon lange Jahre in die Sozialsysteme eingezahlt haben? Etwa, indem sie sich am vorherigen Einkommen orientiert.
„Stattdessen haben seit der Agenda 2010 alle denselben Status (und ich füge hinzu: dieselben knappen, künstlich kleingerechneten Leistungsansprüche) – egal, ob sie nie oder über zwanzig Jahre eingezahlt haben. Das empfinden viele Menschen als ungerecht“, so der Elitenforscher Michael Hartmann dieser Tage in einem Interview mit der Zeitung Der Freitag.* Und fügte hinzu, dass die Politik dieses Empfinden aufgreifen müsse, wenn sie Wähler erreichen wolle.
Es braucht eine nach Höhe und Dauer der Zahlungen differenzierende Absicherung, aus Steuern finanziert, ähnlich der vormaligen Arbeitslosenhilfe. Damals, bis 2004, erhielt man als Alleinstehender 63 Prozent und mit Kindern 68 Prozent des vor der Arbeitslosigkeit erzielten Nettoeinkommens. Ein solches Instrument würde die Angst vor einem sozialen Absturz durch Verlust des Arbeitsplatzes deutlich reduzieren und damit, so Hartmann weiter, der AfD einen Teil des aktuellen Rückenwindes nehmen.
Ohne ein Ende ihrer reichenfreundlichen Sozial- und Verteilungspolitik dürfte die SPD nach Einschätzung von Hartmann in der Wählergunst unter die Marke von 10 Prozent fallen. Das sehe ich ähnlich.
Heiko Holtgrave, Dortmund
* „So fällt die SPD unter zehn Prozent“, Der Freitag, Ausgabe v. 2.10.2025