
Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen (LKA) hat im Auftrag des Innenministeriums erstmals eine umfassende Untersuchung zu Tötungsdelikten an Frauen durchgeführt. Die Studie basiert auf einer Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für die Jahre 2014 bis 2023 und wurde durch Interviews mit Expert:innen aus Polizei, Justiz, Wissenschaft und Opferschutz ergänzt. Ziel war es, Taten mit geschlechtsbezogenem Hintergrund zu identifizieren, ihre Hintergründe zu analysieren und präventive Handlungsansätze zu entwickeln.
Femizid ist in Deutschland kein eigener Straftatbestand
In Deutschland gibt es bislang weder einen eigenständigen Straftatbestand noch eine juristische Definition des Begriffs „Femizid“. Für die Studie griff das LKA daher auf Definitionen des Europarates, der Istanbul-Konvention und der Vereinten Nationen zurück. Demnach liegt ein versuchter oder vollendeter Femizid dann vor, wenn ein Täter eine Frau oder ein Mädchen wegen geschlechtsspezifischer Motive sowie Erwartungen und Vorstellungen tötet oder dies versucht. ___STEADY_PAYWALL___

Um die Fälle zu bewerten, unterscheidet die Studie zwischen Femizid, möglichem Femizid und keinem Femizid. Maßgeblich für die Einschätzung waren die Beziehung zwischen Tatverdächtigen und Opfern, mögliche Tatmotive sowie weitere Tatmerkmale.
Als Femizid gelten demnach Beziehungstaten, sofern keine anderen Motive erkennbar waren, Sexualdelikte mit Todesfolge, die Tötung von Sexarbeiterinnen, sogenannte Ehrenmorde sowie erweiterte Suizide in der Regel von Männern, die erst ihre Partner und dann sich umbringen, wenn keine Hinweise darauf vorlagen, dass die Frau tatsächlich auch sterben wollte.
Mehr als 1.600 Tötungsdelikte an Frauen in zehn Jahren
Im Zeitraum 2014 bis 2023 wurden in Nordrhein-Westfalen 1666 versuchte und vollendete Tötungsdelikte an Frauen erfasst. 908 Frauen kamen dabei ums Leben. Das LKA ordnete 522 dieser Fälle als Femizide ein, darunter 235 vollendete Tötungen. In 511 Fällen ließ sich das Tatmotiv nicht eindeutig feststellen, in den verbleibenden 633 Fällen wurde ein geschlechtsspezifisches Motiv ausgeschlossen.

87 Prozent aller Femizide waren Beziehungstaten, verübt durch aktuelle oder ehemalige Partner. 99 Prozent der Täter waren Männer. Sowohl bei den Opfern als auch bei den Täter:innen waren Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit im Vergleich zu anderen Tötungsdelikten überproportional häufig vertreten: 26 Prozent der Femizid-Tatverdächtigen hatten keinen deutschen Pass.
In absoluten Zahlen weist die Statistik aber 1369 Tatverdächtige mit deutscher Staatsangehörigkeit gegenüber 481 Verdächtigen anderer Nationen aus. Viele Täter:innen zeigten ein patriarchales Frauenbild, geprägt von Kontrolle, Besitzdenken und Eifersucht. Häufigster Auslöser der Taten war eine angekündigte oder bereits vollzogene Trennung oder Scheidung.
Politik spricht von einem gesamtgesellschaftlichen Problem
Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte: „Häusliche Gewalt kann ein Vorbote solcher schrecklichen Verbrechen sein. Das ist ein Menschenbild aus dem Mittelalter, das wir nicht tolerieren dürfen und dem wir entschieden entgegentreten müssen.“

Auch Gleichstellungsministerin Josefine Paul (Bündnis 90/ Die Grünen) zeigte sich alarmiert: „Die Zahlen zeigen, dass fast jeden Tag eine Frau Opfer eines Femizids wird. Gewalt gegen Frauen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem.“
Sie verwies auf das neue Gewalthilfegesetz, das Frauen erstmals einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe gibt. Dieses Gesetz bezeichnete sie als „Meilenstein“, dessen Umsetzung nun konsequent verfolgt werden müsse.
Die Studie macht deutlich, dass Femizide oft das Ergebnis langjähriger Gewalt- und Kontrollstrukturen sind. Expert:innen fordern daher, Unterstützungsangebote niederschwelliger und flächendeckender bereitzustellen und die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Beratungsstellen enger zu gestalten.
Prävention, Schutz und Opferschutz müssen gestärkt werden
In Fällen häuslicher Gewalt regeln das „Gewaltschutzgesetz“ sowie das neue „Gewalthilfegesetz“ das Vorgehen der Polizei. Dazu gehören spezielle Risikobewertungen, Gespräche mit Täter:innen und Betroffenen sowie Schutzmaßnahmen, die durch speziell geschulte Opferschutzbeauftragte in jeder Kreispolizeibehörde umgesetzt werden können.
Die befragten Expert:innen wiesen zudem darauf hin, dass die psychosoziale Prozessbegleitung ausgebaut werden müsse. In der Studie hieß es dazu: „Dass sie [die Betroffenen] nicht denken: Oh Gott, das kann ich gar nicht, das halte ich gar nicht aus und das halte ich gar nicht durch. Und meine Anwältin sagt ja auch, mach mal lieber keine Anzeige, weil da wirst du sowas von durch die Mühle gedreht. […] Wir müssen den Zugang zum Recht gerechter gestalten.“
Gleichberechtigte Rollenbilder müssen schon in der Kindheit vermittelt werden
Ein weiterer zentraler Ansatz zur Vorbeugung sei Prävention im Kindesalter. Laut den Expert:innen müsse bereits in Kitas und Schulen an modernen Rollenbildern gearbeitet werden. So sei es ein Problem, dass „Mädchen nicht Bilder bekommen, davon dass sie auch Superfrau sein können. Das ist einfach total schwer, Superfrau zu werden. Und natürlich ist es nicht unmöglich, weil es schaffen auch manche, aber es schaffen halt nicht alle.“

Darüber hinaus müsse die Gesellschaft stärker sensibilisiert werden: Gewalt gegen Frauen sei kein privates, sondern ein gesellschaftliches Problem. Notwendig sei auch mehr Forschung zu Gewalt- und Tötungsdelikten an Frauen, um Risikofaktoren besser zu identifizieren.
In Nordrhein-Westfalen gibt es ein breites Unterstützungssystem. Zum Unterstützungssystem für von Gewalt betroffene Frauen gehören zahlreiche landesgeförderte Einrichtungen, darunter 62 allgemeine Frauenberatungsstellen, 57 Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt und 70 Frauenhäuser.
Die Polizei klärt bereits in Schulen und in der Öffentlichkeit über häusliche Gewalt auf und arbeitet eng mit Frauenhäusern, Jugendämtern und anderen Stellen zusammen. Politik und Gesellschaft sind gefordert, Schutzstrukturen auszubauen, Prävention zu stärken und Rollenbilder nachhaltig zu verändern.
Der Ergebnisbericht ist online abrufbar unter:
lka.polizei.nrw/artikel/weitere-forschungsprojekte-der-kkf
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