
Der Bundesverband RIAS („Report Antisemitism“) schlägt Alarm: Antisemitismus in Deutschland ist 2024 massiv angestiegen – mit 8.627 dokumentierten Fällen bundesweit, ein Plus von 77 Prozent zum Vorjahr. Auch Dortmund ist betroffen: Laut RIAS NRW wurden in Dortmund 75 antisemitische Vorfälle gemeldet – ein Anstieg um 67 Prozent im Vergleich zu 2023. Damit entfallen 50 Prozent der Vorfälle im Regierungsbezirk Arnsberg und rund acht Prozent aller Fälle in NRW allein auf Dortmund. Mehr als die Hälfte der Betroffenen waren Einzelpersonen, viele davon jüdisch oder jüdisch/israelisch adressiert. Der Bericht macht deutlich, dass Antisemitismus längst nicht mehr nur ein Randphänomen ist, sondern im Alltag vieler Menschen angekommen ist – auch in Dortmund.
Israelbezogener Antisemitismus dominiert
Wie bundesweit zeigte sich auch in Dortmund: Die meisten Vorfälle hatten einen Bezug zu Israel – 43 der 75 dokumentierten Fälle. Der Krieg in Gaza und die Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 wirkten wie ein Brandbeschleuniger. Auf Demonstrationen, Plakaten und in Online-Posts wurde die Schoa relativiert oder der Holocaust instrumentalisiert – oft vermischt mit aggressivem „Othering“, also die Darstellung von Jüdinnen und Juden als Fremdkörper in der Gesellschaft. ___STEADY_PAYWALL___

Diese Entwicklungen spiegeln sich auch auf Bildungseinrichtungen wider. In Dortmund wurden elf Vorfälle an Schulen und Hochschulen gemeldet – bundesweit sogar 450, was einer Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Besonders auffällig: Fast 60 der dokumentierten Vorfälle ereigneten sich offline – auf Straßen, an Schulen oder in Parks. In 20 Fällen handelte es sich um antisemitische Schmierereien. Die häufigste Form war jedoch verletzendes Verhalten (68 Fälle), zu dem Beleidigungen, Bedrohungen, antisemitische Aufkleber oder Versammlungen zählen.
Die meisten Vorfälle passieren im Alltag
Die Täter:innen kommen dabei aus unterschiedlichen Milieus – rechtsextrem, links-antiimperialistisch, islamistisch oder verschwörungsideologisch, so der Bericht. Besonders viele Fälle ereigneten sich im Bereich „antiisraelischer Antisemitismus“ verortet.

In Dortmund fanden 23 Vorfälle auf der Straße statt, fünf davon im Kontext von Versammlungen. Auch Gedenkorte wurden fünfmal zum Ziel von Schmierereien oder Störungen.
Der öffentliche Nahverkehr war viermal betroffen, Sportplätze und Synagogen jeweils einmal. Besonders brisant ist der Anstieg antisemitischer Vorfälle im Internet – 16 Fälle wurden 2024 in Dortmund dokumentiert. Aufkleber mit antisemitischen Parolen oder antisemitischen Verweisen auf Israel wurden 14-mal gezählt.
Dass Antisemitismus an vielen Stellen gleichzeitig sichtbar wird, ist kein Zufall: Er verankert sich immer stärker in der Mitte der Gesellschaft. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, warnt: „Für viele Jüdinnen und Juden ist der Alltag zunehmend von Anfeindungen und Hass geprägt“.
Gesellschaftliche Aufgabe – auch in Dortmund
Die Entwicklung ist alarmierend, betont Benjamin Steinitz vom Bundesverband RIAS e.V.. Der Verein fordert bessere Schulungen für Polizei, Justiz und Lehrkräfte – sowie eine konsequente Umsetzung der IHRA-Definition von Antisemitismus, um Streitfragen über Definitionen nicht länger auf dem Rücken der Betroffenen auszutragen.
In Dortmund können Betroffene sich an ADIRA, eine Beratungsstelle für Antidiskriminierungsarbeit mit dem Schwerpunkt Antisemitismus, um Unterstützung zu erhalten.
Die bundesweiten Zahlen und den Bericht kann man hier nachlesen.
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!
Reaktionen
Anna
Wie genau wird israelbezogener Antisemitismus in diesen Statistiken definiert? Ohne zu provozieren – nur ernste Antworten.
Lukas Pazzini
In dem Bericht steht unter „Begrifflicher Rahmen und Kategorien“ (S61ff.): „Bei der Abgrenzung zwischen israelbezogenem Antisemitismus und legitimer Kritik an israelischer Politik orientiert sich RIAS zudem an der von Natan Scharansky vorgeschlagenen Trias aus Dämonisierung, Delegitimierung und doppelten Standards. (…) Israelbezogener Antisemitismus liegt vor, wenn sich antisemitische Aussagen gegen den jüdischen Staat Israel richten, etwa wenn diesem die Legitimität abgesprochen wird. In der Praxis ordnet RIAS einen antisemitischen Vorfall häufig mehreren Erscheinungsformen zu. Aufgrund dieser Mehrfachzuordnungen ist die Anzahl der Zuordnungen von Erscheinungsformen in der Regel höher als die Zahl der antisemitischen Vorfälle.“
Carsten Klink
Die Nichtregierungsorganisation RIAS, die als Nichtregierungsorganisation umfangreich laut eigener Auskunft auf der RIAS-Internetseite durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat, durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Stiftung Deutsche Kassenlotterie Berlin und das Bundesministerium der Finanzen finanziell unterstützt wird, ist ja offensichtlich nicht ganz unumstritten.
Die Frankfurter Rundschau schreibt am 25.05.2025:
„In einer Studie werden der Nichtregierungsorganisation RIAS in ihrem Kampf gegen Antisemitismus schwerwiegende Mängel vorgeworfen. (…) Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus, kurz RIAS, gilt seit Jahren als erste Adresse, wenn es um die Erfassung antisemitischer Vorfälle geht. Ihre Statistiken prägen parlamentarische Debatten, ihre Berichte werden in Ministerien gelesen, ihre Analysen fließen ein in medienwirksame Alarmrufe über den „wachsenden Judenhass“. RIAS besitzt einen beinahe offiziellen Status in Medien und Politik. Der israelische Journalist Itay Mashiach hat nun eine Auswertung von fast 2000 dokumentierten Vorfällen vorgelegt, wie RIAS systematisch politische Aktivitäten von Palästinenserinnen und Palästinensern oder linken Jüdinnen und Juden als antisemitisch einstuft.
Darin übt Mashiach massive Kritik an RIAS. Er erklärt: „Die Statistiken und Publikationen von RIAS verweisen auf einen Bias zugunsten der Perspektive der israelischen Rechten, verstärkt durch undurchsichtige Methoden und ein umstrittenes Verständnis von Antisemitismus als ein ewiger und unnachgiebiger Hass.“ Weiter heißt es: „In Anbetracht der hohen Reputation, die RIAS genießt, haben der fehlerhafte Ansatz der Organisation und die daraus folgende alarmistische Berichterstattung erhebliche Auswirkungen, darunter die Stigmatisierung von migrantischen Communities, die Einschränkung politischer Meinungsäußerung und die Unterdrückung aktivistischer Menschenrechte.“
Den gesamten durchaus lesenswerten Artikel der Frankfurter Rundschau kann man hier lesen:
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/in-einer-studie-werden-der-nichtregierungsorganisation-rias-in-ihrem-kampf-gegen-antisemitismus-schwerwiegende-maengel-vorgeworfen-93753999.html
Ulrich Sander
Dazu ist zu bemerken: Einst fragte das Neue Deutschland: Wie können Journalisten und Politiker dem Vorwurf des Antisemitismus entgehen, wenn Sie sich der israelischen Politik kritisch gegenüberstellen wollen?
Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery antwortete: Sie müssen in ihrer Kritik deutlich machen, dass sie nicht gegen die Existenz Israels sind, sondern lediglich das Interesse von Palästinensern und Israelis gleichermaßen berücksichtigen wollen. Das muss vollkommen klar sein. (ND 27. März 2006)