„Reiner Stoff statt Dreck von der Straße“ – Dortmund startet erste Diamorphin-Ambulanz

Eine Arztpraxis als Anlaufstelle für bis zu 80 extrem Abhängige:

Blick in einen Behandlungsraum
Bis zu drei Mal täglich kommen die Süchtigen, um sich unter Aufsicht Heroin zu spritzen. Stadt Dortmund / Leopold Achilles

Seit Februar hat Dortmund eine neue Einrichtung, die in Nordrhein-Westfalen Modellcharakter hat: Die MVZ Diamorphin-Dortmund gGmbH versorgt schwerst opiatabhängige Menschen mit Diamorphin – pharmazeutisch hergestelltem Heroin. Für viele ist es die letzte Chance, ihren Alltag stabiler zu bewältigen. Die Ambulanz in der Westhoffstraße 8–12 ist die erste Einrichtung in Dortmund, die Diamorphin verabreichen darf. Sie ist ein Baustein im Suchthilfesystem der Stadt – und für manche Patient:innen der einzige Weg, aus dem Kreislauf von Beschaffungskriminalität und riskantem Konsum auszubrechen.

Ein sicherer Ort für extrem Abhängige

„Die Diamorphin-Ambulanz ist seit gut sechs Wochen in Betrieb – da haben wir mit der Erstausgabe begonnen“, erklärt Michael Gierse, Geschäftsführer der MVZ Diamorphin-Dortmund gGmbH.

Blick auf Spritzen und Zubehör
Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

„Wir sind dafür da, um maximal 80 schwerstabhängige Patienten zu versorgen – mit teilsynthetisch hergestelltem pharmazeutischen Heroin. Sie können bis zu drei Mal am Tag hier hinkommen, um sich mit Heroin in Spritzenform zu versorgen.“

Die Vergabe erfolgt unter strengen Bedingungen: Vor jeder Abgabe müssen Patient:innen einen Alkoholtest machen. Nur wer „null Promille“ hat, darf das Diamorphin erhalten. Anschließend wird es direkt vor Ort konsumiert, unter Aufsicht der Fachkräfte. „Die Wirkung von Heroin hat nur eine kurze Halbwertzeit“, erklärt Gierse. „Darum bekommen sie zusätzlich ein langwirksames Produkt, um gut durch den Tag oder die Nacht zu kommen.“

Portrait des Zitatgebers
Michael Gierse ist Geschäftsführer der MVZ Diamorphin-Dortmund gGmbH. Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Manche Patient:innen seien berufstätig und kämen nur einmal täglich, andere bis zu drei Mal. „Es gibt Menschen, die nicht ohne Grund abhängig wurden, die nicht hinter dem Kick her sind, sondern die Opiate brauchen, um ihr Leben aushalten zu können“, sagt er weiter. „Die klassischen Substitute helfen da nur bedingt.“

Die medizinische Leitung liegt bei Dr. Heike Rauser-Boldt. Sie betont: „Vom Medizinischen her gibt es keine Vorteile. Aber es gibt Menschen, die mit der Langzeitgabe von Methadon allein nicht klarkommen und Beikonsum haben. Bei Diamorphin haben sie einen sicheren Konsum. Wer nur mit oralem Stoff nicht klar kommt, kommt hier mit Diamorphin besser klar und die Überlebenschance ist größer.“

Strenge Auflagen – und großer Bedarf

Die Patient*innen müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllen: ein Mindestalter von 23 Jahren, mindestens fünf Jahre Abhängigkeit und mindestens zwei gescheiterte Therapieversuche. Der jüngste Patient ist aktuell Ende 30, der älteste 58 Jahre alt. Das Kernalter liegt zwischen 40 und 50 Jahren.

Holger Keßling ist Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Dortmund.
Holger Keßling ist Leiter des Gesundheitsamtes der Stadt Dortmund. Foto: Alexander Völkel für Nordstadtblogger.de

Holger Keßling, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, macht deutlich, warum das neue Angebot wichtig ist: „Deutlich zum Ausdruck geworden, dass die diamorphingestützte Substitution der fehlende Baustein im Hilfesystem war. Wir hatten ein sehr gut ausgebautes Angebot, aber das ersetzt nicht die Diskussion um eine Weiterentwicklung. Diamorphin für einen eng umgrenzten Personenkreis fehlte in Dortmund.“

Die rechtlichen Rahmenbedingungen bestehen zwar seit 2009, doch umsetzbar war die Idee lange nicht. „Die Vorgaben waren brutal und nicht zu erfüllen“, erinnert sich Keßling. Erst durch eine Machbarkeitsstudie konnte die Ambulanz in ihrer heutigen Form geplant werden.

Standort in der Nordstadt: „Wir müssen dahin, wo die Menschen sind“

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Dr. med. Thomas Fadgyas ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie in Dortmund. Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Die Ambulanz liegt bewusst mitten in der Nordstadt – nah an den Menschen, die sie brauchen. „Ohne das Soziale Zentrum hätte das nicht funktioniert“, betont Gierse. „Sie haben auch die Planung und den Umbau gestemmt. Wir müssen dahin gehen, wo die Menschen sind. Schätzungsweise 80 Prozent der Patientinnen und Patienten sind auch aus der Nordstadt.“

Thomas Fadgyas, Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie sowie Vertreter des Sozialen Zentrums, begleitet die Ambulanz von Beginn an: „Ich habe das gerne mitbegleitet als Co-Gesellschafter. Wir haben viel gelernt über die Prozesse – es ist ein wichtiges Projekt auch aus Sicht des Sozialen Zentrums. Wir als Gesellschafter arbeiten ehrenamtlich, da gibt es auch keine Gewinnabführungen.“

Finanzierung als Hausarztpraxis und ohne Profit

Portrait des Zitatgebers
Sven Scharfe von der Stabstelle Kommunalwirtschaft der Stadt Dortmund. Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Die Ambulanz ist als gemeinnützige GmbH organisiert. „Wir hatten hier die Prämisse der engen Verzahnung mit den Akteuren im Suchthilfe-System, daher haben wir uns für eine gGmbH entschieden“, erklärt Sven Scharfe von der Stabstelle Kommunalwirtschaft der Stadt Dortmund. „Es gibt mehrere ärztliche Gesellschafter, die Stadt und die direkte Verzahnung zu PUR.“

Der Betrieb soll sich langfristig selbst tragen. „Es ist eine ganz normale Arztpraxis – dadurch wird die Ambulanz finanziert“, so Keßling. „Bei 70 bis 80 Patient:innen würde sie eine schwarze Null schreiben.“ Dass es dabei nicht um Profit geht, betont Gierse: „Die Bezahlung durch das Kassensystem ist nicht ausreichend, um die Startzeit zu überstehen. Die Anlaufkosten hat die Stadt übernommen.“ Sie trägt auch die Investitionskosten in Höhe von rund 850.000 Euro. Das hatte der Rat der Stadt Dortmund so beschlossen.

Ein Netzwerk von Helfenden und tägliche Öffnungszeiten

Blick in einen Behandlungsraum
Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Rund 17 Menschen arbeiten in der Ambulanz – sechs Ärzt:innen, dazu zehn medizinische Fachkräfte und Mitarbeitende im Backoffice – die meisten in Teilzeit oder auf Stundenbasis. Die Öffnungszeiten sind lang: Täglich von 7 bis 19 Uhr, auch an Wochenenden, wird Diamorphin ausgegeben.

Zwischendurch finden hausärztliche Sprechstunden statt. „Wir verabreichen nicht nur Diamorphin, sondern sind auch ein medizinisches Versorgungszentrum im hausärztlichen Bereich“, sagt Rauser-Boldt. „Die Substitutions-Patienten, die wir betreuen, können wir auch hausärztlich betreuen – das ist auch sicher möglich.“ Theoretisch könnten hier auch andere Kranke behandelt werden. Allerdings will und soll sich die Praxis auf ihr Kernzielgruppe konzentrieren.

Portrait der Zitatgeberin
Sandra Heinsch ist Suchtkoordinatorin im Gesundheitsamt Dortmund. Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

Auch die Suchthilfe ist eng eingebunden. „Wir arbeiten hier natürlich auch sozialarbeiterisch und haben niederschwellige Kontaktangebote, Zugang zu anderen Fachrichtungen sowie eine psychosoziale Betreuung durch Drobs und Pur“, beschreibt Gierse.

Sandra Heinsch, Suchtkoordinatorin des Gesundheitsamtes, hebt hervor, wie eng abgestimmt das Projekt entwickelt wurde: „Wir haben 2019 auf der kommunalen Gesundheitskonferenz, wo sämtliche Stakeholder vertreten sind, das Thema sehr umfänglich erörtert. Es gab Konsens, dass wir dieses Angebot für die eng umgrenzte Zielgruppe vorhalten wollen.“

Substitution ist mehr als Ersatz, sondern ein gesellschaftlicher Gewinn

Kritik an der Substitution weist Gierse entschieden zurück: „Substitution ist ein volkswirtschaftlicher Gewinn – aus medizinischen, aber auch aus gesellschaftlichen Gründen. Auch wenn ein Patient in Substitutionsbehandlung vielleicht viel Geld kostet, ist er weniger im Krankenhaus, er klaut nicht oder prostituiert sich“, so Gierse.

Portrait der Zitatgeberin
Heike Rauser-Boldt ist Ärztliche Leiterin der MVZ Diamorphin-Dortmund. Leopold Achilles für Nordstadtblogger.de

„Er spart viel Geld. Dieses Geld für den Konsum kommt in der Regel aus kriminellen Bereichen – das können wir massiv einschränken. Dann profitiert auch die Gesellschaft“, ist er überzeugt.

Die Ambulanz sieht sich als letzte Station in einer langen Kette von Hilfen. „Klar ist: Die Präventionsarbeit muss weitergehen“, so Rauser-Boldt. „Wir sind hier in der Ambulanz am Ende der Hilfekette.“


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