Ganz viel Zeit: Konzerthaus macht Dortmund mit dem SLOW Festival zur Entschleunigungsinsel

Besucher*innen fanden Langsamkeit in hektischen Zeiten

Bild zeigt: Petrikirche - gut besucht beim Slow-Festival
Angebot im Rahmen des Festivals: SLOW Night, durch die Nacht mit dem Vokalensemble Cantando Admont Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Wann hast du das letzte Mal auf etwas gewartet, ohne dich dabei abzulenken? Wann hast du das letzte Mal der Stille gelauscht, oder Vogelgezwitscher? Keine Termine oder Notizen eingetragen, Whatsapp gecheckt oder einen Podcast in 1,5-facher Geschwindigkeit gehört? Am vergangenen Wochenende ging es für 36 Stunden genau darum: innezuhalten, sich zu besinnen, und zwar sowohl mit als auch ohne Musik. Bei Slow Food, Teezeremonien, einem Sandmandala buddhistischer Mönche oder in Betrachtungsräumen im Konzerthaus und in der Petri-Kirche. Das Konzerthaus Dortmund stellte mit dem „Slow Festival“ ein besonderes Programm auf die Beine: Ein Festival der Verlangsamung, der inneren Besinnung und der Achtsamkeit.

Slow Walk als Herausforderung: 900 Meter in drei Stunden

Bild zeigt Prof. Dr. Hartmut Rosa bei seinem Vortrag SLOW Lecture
Professor Hartmut Rosa bei seinem Vortrag zur Bedeutung des Festivals. Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Der Soziologe Hartmut Rosa hielt den Impulsvortrag zur Bedeutung des Festivals. Sein Buch handle von Beschleunigung, nicht Entschleunigung, betonte er bei seinem Auftritt. Daher lässt sich ungern als „Entschleunigungsprophet“ betiteln. Aber er nehme eine „kulturelle Sehnsucht“ nach Langsamkeit wahr.

„Weshalb ist das Vergnügen an der Langsamkeit verschwunden? Ach, wo sind sie, die Flaneure von einst?“ (Milan Kundera, Die Langsamkeit)

Eine Gruppe der Festivalbesucher*innen setzte die Langsamkeit beim Slow Walk in die Tat um. Für relativ kurze Strecken ließen sie sich Zeit, genauer gesagt: drei Stunden. 900 Meter habe sie in dieser Zeit zurückgelegt, so eine Teilnehmerin. Und sich dabei ganz anders verbunden gefühlt, erzählt sie mit Begeisterung. Bei der achtsamen Sternwanderung begleiteten Studierende die Besucher*innen nach dem Konzept „My walking is my dancing“ der Künstlerin Anne Teresa De Keersmaker aus Belgien.

Festivalprogramm mit Workshops, Musik und Inpulsvortrag

Ebenso braucht Musik die klare Anwesenheit im Moment. Der Komponist Ondřej Adámek wird im Festivalprogramm zitiert mit den Worten: „Wenn die Vögel singen, dann ist das noch keine Musik. Wenn ich aber sage: ,Hör die Vögel, wie sie singen‘, dann ist das Musik.“

Bild zeigt Sänger beim Slow-Festval
Die Nacht in der Petrikirche: SLOW Night mit Vokalensemble Cantando Admont, an der Orgel: Wolfgang Kogert Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Beim Eröffnungskonzert spielten das Streichquartett des O/Modernt Chamber Orchestra Werke wie Arvo Pärts „Da pacem Domine“, Pēteris Vasks’ „Tris skatieni“ oder Jürg Freys „Unhörbare Zeit“ und zelebrierten die innere Einkehr als Kunst. Die schwebenden Klänge scheinen nicht nur den Moment zu verlangsamen, sie erinnerten auch an die Vergänglichkeit des Moments und des Lebens. Beim Abschlusskonzert interpretierte das O/Modernt Chamber Orchestra meditative und besinnliche Werke wie Hildegard von Bingens „Vos flores rosarum“, Philip Glass’ „Movement III“ aus der 3. Sinfonie und Pēteris Vasks’ „The fruit of silence“.

Im Mittelpunkt des Abends: John Cages „4’33“ – viereinhalb Minuten Stille, die allerdings alles andere sind als still. „4’33“ fokussiert eine Stille, die man aushalten muss. Atmend, räuspernd, auf dem Stuhl umherrutschend, sich an Musik erinnernd, den Einkaufszettel durchgehend.

Gegenprogramm zur modernen, hektischen Welt

Während am Sonntag auf dem Westenhellweg und in der Brückstraße Menschenmassen von einem Geschäft zum nächsten eilen, lieferte das Konzerthaus das Gegenprogramm.  Er sei heute in der Stadt „geplättet gewesen“, gesteht Professor Hartmut Rosa von der Universität Jena beim Impulsvortrag „SLOW Lecture“. In Veranstaltungen wie dieser werde die Sehnsucht nach Langsamkeit deutlich. Rosa nennt es eine „Entschleunigungsinsel“ – aber danach gehe es zurück in den beschleunigten Alltag. Handle es sich also um eine „funktionale Entschleunigung“, um anschließend schneller zu werden, effizienter?

Bild zeigt Prof. Dr. Hartmut Rosa bei seinem Vortrag SLOW Lecture
Impulsvortrag des Soziologen im Konzerthaus Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

In seinem Vortrag beschrieb Rosa die moderne Gesellschaft mit einem Gedankenexperiment: Was würden Aliens sehen? Seine Antwort lautet: Sie würden sehen, dass wir die Welt beschleunigen. Empirisch nachweisbar sei beispielsweise der Anstieg der Redegeschwindigkeit im norwegischen Parlament. Ob Technik, Datenströme, Industrie/Produktion, Kommunikation, Lebenstempo: „Wir setzen die Welt in Bewegung“, seit dem 18. und 19. Jahrhundert.

Früher habe man sich eher für Veränderung rechtfertigen müssen, heutzutage sei es umgekehrt. In einem anderen Job, einer anderen Position könne man eventuell etwas mehr verdienen – also warum bleiben? Rosa plädierte für die „Beharrung gegenüber der Veränderung“.

Durch unser Handlungstempo ließen sich Zeiten bewusst verlangsamen, führt Rosa aus, beim Gehen, Kochen, Reden oder Antworten. Der Soziologe führte weitere Beispiele an, wie eine mehrtägige Bergwanderung. Man nehme die Zeit  anders wahr, ein Tag werde „wahnsinnig lang“. Oder bei der Fortbewegung mit der Fahrrad: „Man nimmt den Wind wahr, den Duft“.

Rosa beschreibt „Resonanz“ als menschliche Grundform

Weniger zu tun könne dazu führen, im Inneren berührt zu werden. In der Stille entstehe die Wechselwirkung mit anderen, mit der Welt – „wir öffnen uns“. Entfremdung entstehe wenn „nicht ins Ihnen antwortet, nichts resümiert“. Rosa formuliert die Frage: „Was ist die Grundform des Menschseins, der Existenz? Was liegt am Grund?“. Er beantwortet die Frage mit „Resonanz“. Die Interaktion sei schon für Säuglinge essentiell, sogar für Embryos vor der Geburt.

Bild zeigt Prof. Dr. Hartmut Rosa bei seinem Vortrag SLOW Lecture
Professor Hartmut Rosa bei seinem Vortrag Helmut Sommer für Nordstadtblogger.de

Religion habe diese Funktion, das Beten richte sich zugleich nach Innen und Außen. Eine „vertikale Achse“, nennt Rosa diese Verbindung des Selbst mit dem Innen und dem Außen zur gleichen Zeit. In unserer Gesellschaft gebe es nur aktiv oder passiv, es gebe nicht beides zugleich. In der Formulierung „Ich höre Musik“ oder auch beim Improvisieren sei nicht eindeutig, ob jemand etwas tue oder jemandem etwas geschehe. Wir seien dabei aktiv und rezeptiv, geben Impulse und empfangen. Dies sei die „Grundform von Demokratie“. Hartmut Rosa ist sicher: „Musik hat eine revolutionäre Kraft“.

„Schon wenn der erste Ton erklingt
Beginnt der Raum zu atmen und zu leben
Ist es wie ein Erschauern, wie ein Schweben
Als ob ein Zauber uns bezwingt
Und eine Melodie befreit
Uns aus dem Irrgarten unsrer Gedanken
Und öffnet alle Schleusen, alle Schranken
Unserer Seele weit“

(Reinhard Mey, Welch ein Geschenk ist ein Lied)

Musik, die sowohl aktiv gehört wird, als auch passiv oder rezeptiv empfangen, verflüssige die harten Gegensätze in der Welt, so Rosa. Das Programm könne Möglichkeiten eröffnen und über die ‚Entschleunigungsinsel‘ hinaus eine nicht-aggressive Form des In-der-Welt-Seins ermöglichen anstelle von Burnouts und Wutbürgertum.


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