Eine moderne Erinnerungskultur muss sich vor allem mit den Fakten auseinadersetzen

Historiker Wolfgang Benz liest aus seinem Buch „Zukunft der Erinnerung“

Wolfgang Benz‘ Buch „Zukunft der Erinnerung. Das deutsche Erbe und die kommende Generation.“ Foto: Wulf Erdmann

Was macht eigentlich eine moderne Erinnerungskultur aus und wie sollte in der deutschen Gesellschaft den Verbrechen im Nationalsozialismus gedacht werden? Der Historiker Wolfgang Benz hat auf diese Fragen in seinem neuen Buch „Zukunft der Erinnerung. Das deutsche Erbe und die kommende Generation“ versucht, Antworten zu finden. Weshalb es immer zuerst um die Fakten gehen sollte und warum die Erinnerungskultur auch ohne Zeitzeug:innen auskommt, erklärte er im Dortmunder Rathaus. Moderiert wurde die Veranstaltung von Alex Völkel – sie fand im Rahmen des Roma-Kulturfestival „Djelem Djelem“ statt – organisiert von AWO, Auslandsgeselllschaft und Stadt Dortmund.

Warum sich mit den Themen nochmal beschäftigen?

Weshalb beschäftigt so ein Uralt-Historiker noch mit dem Thema Erinnerungskultur, fragte Benz sich und den Sall zu Anfang. Als Historiker übersehe er den Zeitraum, indem nach dem Zweiten Weltkrieg alle behauptet haben, dass sie nichts von den Taten der Nazis gewusst hätten.

Heute steht die Erinnerungskultur von Parteien wie der AfD unter Druck. Foto: Wulf Erdmann

Gegen dieses Verdrängen der eigenen Taten und Verantwortung im Nationalsozialismus hätten Historiker wie Benz ab den 1960er-Jahren angeschrieben und versucht, mit Tatsachen die deutsche Gesellschaft aufzurütteln. Auch mit dem Ziel, dass sich der Nationalsozialismus nichts wiederhole und Lehren aus dem Dritten Reich gezogen werden.

Dass es heute wieder Stimmen und Parteien gebe, die diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in Frage stellen, das Leugnen von Verbrechen zum Stimmenfang nutzen und so „zur Destruktion der Demokratie“ beitragen, zeige, dass die Historiker noch allerhand Arbeit vor sich haben.

Jede Generation braucht eigene Form des Gedenkens

Ihm sei ferner eine gewisse „ritualisierte Geschäftigkeit beim Erinnern“ aufgefallen. Ja, es werde zu Stichtagen den Verbrechen der Nationalsozialismus und der Meilensteinen der Nazis auf dem Weg zu ihrer Machtübernahme und ihrem Untergang gedacht.

Jedoch beobachtet Benz hier allerdings eine „Bürokratisierung des Gedenkens“, also eine Sinnentleerung des Gedenkens. Das Erinnern findet statt, aber davor abschrecken, dass sich nichts wiederhole, hilft es nicht mehr zu hundert Prozent. Es muss also eine neue Art des Erinnerns her.

Wolfgang Benz im Gespräch mit Nordstadtblogger Alex Völkel. Foto: Wulf Erdmann

„Jede Generation muss neue Formen des Gedenkens finden“, denn das Erbe des Nationalsozialismus und deren Verbrechen würde auch kommende Generationen beschäftigen (müssen), weil diese vor allem im Ausland präsent bleiben.

Dabei gehe es, laut Benz, nicht darum, die Erinnerungskultur mit möglichst vielen Emotionen aufzuladen. Keine Personalisierung der NS-Verbrechen, sondern Aufklärung auf Grundlage der bestehenden Fakten, fordert Benz. „Am Ende kommt es auf Fakten an, Fakten überzeugen, sind unbestechbar.“

Zivilisationsbruch muss beim Erinnern im Mittelpunkt stehen

In der anschließenden Diskussion fragte Nordstadtblogger Alexander Völkel, woran wir uns beim Nationalsozialismus genau erinnern sollten. „An den Zivilisationsbruch, was passiert, wenn man elementare Elemente des Miteinanders umkehrt“ und diese außer Kraft setzt.

„Wir sehen im Nationalsozialismus, wie schnell aus einem Vorurteil Hass entstehen kann“, dem müsste man sich auch heute noch bewusst sein. So bediene die AfD gezielt solche Vorurteile, um gesellschaftlichen Hass zu schüren.

Benz machte ferner deutlich, dass beim Erinnern an die vom Nazi-Regime Ermordeten und Entrechteten nicht nur um Jüdinnen und Juden – ohne die Singularität dieses Verbrechens anzuzweifeln – geblickt werden soll, sondern auch auf andere marginalisierte Gruppen, wie zum Beispiel Sinti:zze und Rom:nja.

Wolfgang Benz: „Dann brachen wir keine Historiker mehr“

Was aus der Erinnerungskultur werden soll, wenn die Zeitzeug:innen nicht mehr da sind, fragt Alexander Völkel. „Das ist eine fehlgeleitete Frage.“ Benz erscheint es als kein Problem, wenn die letzten Zeitzeug:innen nicht mehr da sind, zumal diese auch ihre eigenen Erinnerungen im Laufe der Zeit verfälschen können. „Es gibt genug Dokumente, Bücher, andere Medien. Da steht alles drin, was wir brauchen, um uns zu erinnern“.

Beim Erinnern müssen wir uns auch an die Fakten halten, erklärt Wolfgang Benz. Foto: Wulf Erdmann

Bei diesem Thema entzündete sich eine Diskussion zwischen Benz und einer Frau aus dem Publikum, die behauptete, dass die Nazis aus den Jüdinnen und Juden Seife hergestellt hätten und sich darauf berief, dass ihr diese Geschichte von ihrem Vater erzählt wurde.

Benz widersprach ihr vehement: „Wir haben keine Beweise dafür und ohne Beweise kann ich das nicht behaupten“, so Benz. Das relativiere nicht die Verbrechen der Nazis, Grusel-Geschichten zu erzählen, sei aber noch weniger zielführend, um die Verbrechen der Nazis zu verstehen. Eine moderne Erinnerungskultur müsse sich immer zuerst an die Fakten halten. „Wenn wir das nicht tun, brauchen wir keine Historiker mehr!“

Historische Tatsachen in den Vordergrund stellen

Was braucht schließlich eine moderne Erinnerungskultur? „Wir müssen uns mit Tatsachen beschäftigen“, machte Benz nochmal deutlich. Doch liegen uns, 80 Jahre nach Kriegsende, immer noch nicht alle Fakten vor.

Historiker Wolfgang Benz Foto: Wulf Erdmann

Der Blick in die Archive bleibt immer noch wichtig, auch die Frage, welche personellen Kontinuitäten es nach dem Untergang des Dritten Reichs in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsch-Demokratischen Republik gab, muss weiterhin und umfassender erschlossen werden.

„Der lokale Bezug muss gestärkt werden“, sich nicht nur auf die Nazi-Größen konzentrieren, sondern schauen, was vor Ort passiert ist und wie es passieren konnte, dass eine gesamte Stadtgesellschaft, zum Beispiel in Dortmund, widerstandslos den Nationalsozialismus toleriert und weitestgehend unterstützt hat.


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