
20 Jahre Dortmunder Underground – ein Fall für die Geschichtsbücher: Drei Kenner der Szene erinnern sich an die Jahre 1978-1998 und präsentieren mit jeder Menge Herzblut ein Buch und eine Ausstellung, die die alten Zeiten wieder aufleben lassen. Interviews mit Zeitzeugen, zahlreiche Fotos, Schallplatten, Fanzines und Konzertplakate lassen Fan-Herzen höher schlagen. Buchpremiere und Ausstellungseröffnung finden am 17.Oktober im „Annelise“ statt, Gneisenaustraße 30. Nordstadtblogger sprach mit den Machern.
„Das war nämlich tatsächlich so einfach: Punk konnte jede:r sein.“
NSB: Im Buch geht es um die Szene der Jahre 1978 bis 1998 – wo waren Sie denn damals? Peter Hesse: Ich bin 1969 geboren und die ersten Jahre im heutigen Saarlandstraßenviertel groß geworden. Als ich sieben Jahre alt war sind wir nach Dortmund-Schüren gezogen. Meine Patentante hat oft auf mich und meine Schwester aufgepasst – und sie schaute immer Musik-Sendungen, wie „Musik ist Trumpf“, „Traumland Operette“ oder die „ZDF Hitparade“. Ich habe früh verstanden, dass Musik wichtig ist.

Mit einer Sendung von „RockPop“ moderiert von Christian Simon entdeckte ich ab 1980 meine eigene Musik: Ich sah dort AC/DC und die Zeltinger Band und über ältere Kollegen auf der Schule, kam ich auf die Dead Kennedys und die Radiosendungen von John Peel. Ab da war Musik meine große Leidenschaft.
Ben Richter: 1978 – mit 14 – war ich noch irgendwo zwischen langen Haaren, Ärger im erzkonservativen Leibniz-Gymnasium, dem Tragen einer Jeansweste mit „Kiss“ und „Slade“ darauf und der Frage, was sind Mädchen und warum?
1980 aber hörte ich dann – meinem älteren Bruder sei Dank – plötzlich Punkmusik. Das hat mich umgehauen. Ich war 16, ahnte langsam, was Mädels waren, schnitt mir die Haare ab, ging auf die ersten Konzerte und war mittendrin. Das war nämlich tatsächlich so einfach: Punk konnte jede:r sein.
Napalm Death in der Schrebergartenanlage Justenkamp
NSB: Gibt es eine besonders starke persönliche Erinnerung an diese Zeit? Peter Hesse: Im Juli 1987 tourten die damals völlig unbekannten „Napalm Death“ durch Deutschland. ___STEADY_PAYWALL___Alle Gagen wurden durch die Anzahl der Musiker geteilt. Was bei einem Eintrittspreis von politisch korrekten sechs DM auf dem Papier fair klang, war in Wirklichkeit graue Realität. In Dortmund spielten sie in der Schrebergarten-Anlage „Im Justenkamp“ in Dortmund-Hörde.

Während der Vorbands, sah man draußen am Würstchen-Stand einzelne Musiker von „Napalm Death“, die Fans anquatschten, ob sie ihnen nicht eine Wurst spendieren könnten. Ihre Gage lag tatsächlich nur bei ein paar Mark und die waren schnell verzehrt. Besonders tragisch war das, weil der Napalm Death-Drummer Mick Harris Vegetarier war und nur Toastbrot mit Ketchup essen konnte.
Am Ende war es ein großes Fiasko. Viele Besucher pinkelten in die Beete, ein paar Rosenbüsche wurden herausgerissen, der Vandalismus-Schaden summierte sich. So ging die Rechnung am Ende mit den Kleingärtnern nicht auf. Es folgte ein heftiger Streit mit dem Wirtshaus-Ehepaar. Den Flyer zu diesem Event und ein paar Fotos haben wir bei uns im Buch.
Ben Richter: Da sind so viele Erinnerungen … die ersten IDIOTS- oder CLOX-Konzerte – pure Energie, Schweiß, Bier. Das erste Mal von Skins erwischt und verprügelt werden, krasse Hausbesetzer-Demos, harte Partys, das erste Mal von einer Punkerin abgeschleppt werden und die „Unschuld verlieren“. Mein erstes Fanzine, zu dem ich einen Leserbrief (!) bekam. Auswärtsfahrten mit 20 bis 30 Leuten. Da kann ich nicht eine Erinnerung hervorheben.
„Leute, es geht fast alles! Fallt hin, steht wieder auf, aber macht was!“
NSB: Warum jetzt dieses Buch? Geht es Ihnen um eine Analyse oder ist es mehr Nostalgie? Ben Richter: Die erste Idee zu „DortmUnderground“ stammt von Jens und Peter. Sie sagten: Es sterben gerade so viele von damals weg, wir müssen da nochmal etwas über die Zeit machen! Und dann haben sie sich ran gesetzt. Ich bin etwas später eingestiegen. Persönlich würde ich sagen: Analyse und Nostalgie sind ja nichts Gegenteiliges oder müssen es nicht sein.

Wir wollen einerseits zeigen und festhalten, wie es damals war, und andererseits sagen: „Leute, es geht fast alles! Fallt hin, steht wieder auf, aber macht was!“ Das ist ja auch ein Appell an die nächste Generation. Ok, bei uns wahrscheinlich eher die übernächste (lacht).
Peter Hesse: Popkultur ist immer ein Produkt ihrer Zeit. Sie zeigt, wie Menschen denken, fühlen, sich kleiden oder kommunizieren. Wenn die Zeit vergeht, verändert sich der Kontext – und das, was früher „normal“ war, wird plötzlich interessant als Zeichen einer vergangenen Epoche.
Dortmund war in den 1970er Jahren geprägt von einer linken Hausbesetzer-Szene, daraus haben sich die Punkbands „Volxempfänger“ und „eklatant a.b.“ gegründet, die wir groß im Buch und in der Ausstellung haben. Punk war natürlich wichtig, mit „Neat“, „Clox“ und den „Idiots“ haben wir ab 1978 eine sehr rege Szene gehabt.

Ab den 1980er-Jahren wurde Dortmund, wie das ganze Ruhrgebiet, vom Strukturwandel tief erschüttert. Die Stahlkrise, das Sterben der Zechen und die daraus folgende Massenarbeitslosigkeit hinterlassen Narben in der Stadt – und das hat sich auch in so manchem Song verewigt.
Eine weitere popkulturelle Antwort auf diese Prozesse waren extreme Spielformen des Heavy Metal – und wir hatten ab 1984 mit „Angel Dust“, „Liar“, „Flaming Anger“, „Despair“, „Intervention“ oder „Crows“ gleich sehr viele talentierte Bands in der Stadt. Einige dieser Musiker sind bis heute am Start.
144 Seiten, 60 Interviews, prominente Gastbeiträge und jede Menge Fotos
NSB: Wie leicht oder auch schwer war es nach all den Jahren an die Menschen und an das Material zu kommen? Peter Hesse: Ich hatte im Februar 2025 den ersten Seitenplan gemacht, wir dachten zuerst an ein Heft, das etwa 64 Seiten dick ist. Nun ist es ein ganzes Buch geworden, 144 Seiten. Er erscheint beim Herner Adhoc Verlag, die in ihrem Programm auf historische Ruhrgebietsthemen spezialisiert sind.

Wir haben rund 60 Protagonist:innen interviewt und haben mit Blues-Pianist Huggy Borghardt, WDR-1Live-Moderator Klaus Fiehe oder Entertainer Elvis Pummel tolle Gastbeiträge im Buch – das meiste haben wir im Trio geschrieben, also Ben Richter, Jens Prüter und ich.
Ben und Jens haben von 1980 bis 2000 jedes Fanzine aufgetrieben, das es in der Stadt gab. Wir beleuchten auch die Medienstadt Dortmund, wo Magazine wie der „Metal Hammer“, „Shark“, „Rock Hard“, „Visions“ und viele andere ihre Redaktionen aufbauten – und teilweise bis heute haben. Alle, die wir sprechen wollten, haben zugesagt. Selbst Größen wie Sasha und Phillip Boa sind im Buch.
Ben Richter: Es gibt Menschen, die das „damals“ tatsächlich archiviert haben, alles fein säuberlich abgeheftet, wirklich unfassbar! Die waren eine wahnsinnige Hilfe und da geht nochmal ein dicker Dank raus – ganz besonders an Rim Shout-Gitarrist Dörfel.
Vernissage mit vielen alten Bekannten. Fast ein Familienfest
NSB: Was erwartet uns in der Ausstellung? Peter Hesse: Wir haben in der „Annelise“ insgesamt drei Räume – im ersten zeigen wir ein Best Of-Foto-Sammelsurium, im zweiten wollen wir im Stil eines Plattenladens die 40 wichtigsten Dortmund-Langspielplatten und alle wichtigen Musikmagazine, Label, Fanzines sowie rund 25 ausgewählte Konzertplakate zeigen. Und im dritten Raum zeigt Fotograf Andreas Hahner eine Anzahl von Live-Bildern, die er in den Jahren von 1988 bis 1993 fotografiert hat – dazu gehören lokale Helden, aber auch US-Underground Größen wie „NoFX“, die er meist im FZW oder in der Live-Station fotografiert hat.

Ben Richter: Vor allem gibt es bei der Eröffnung Menschen zu sehen – echte Originale. Da kommen alte Dortmunder aus Berlin, München, Hamburg, sogar aus dem Ausland. Menschen, die einander vielleicht Jahrzehnte nicht gesehen haben, den Kontakt verloren haben. Ein Kollege fliegt von den Azoren ein, ist doch der Hammer! Und viele werden ihre – jetzt ja auch schon erwachsenen – Kinder mitbringen. Ein Familienfest – fast.
Es gibt vieles zum direkt bestaunen, teils zum Anfassen, blättern, laufende Bilder von einem Fußballturnier inklusive Fans, bestehend aus der Punk- und Skin-Szene von vor 36 Jahren – garniert mit vielen Einzelstücken. Eine Unterschriften-„Tür“, auf der sich jede:r verewigen kann. Wir machen auch noch besondere Veranstaltungen und Diskussionsrunden, eine kleine Auktion. Und: Es gibt Dosenbier!
„Wer das Internet kritisch und geschickt nutzt, hat heute viel mehr Möglichkeiten“
NSB: Ihr Fazit: War früher alles besser? Jens Prüter: Früher war nicht alles besser. Es gab zwar eine enorm vernetzte Szene von Bands und ausreichend Auftrittsmöglichkeiten, aber es war sehr schwer außerhalb von Dortmund bekannt zu werden. Die Not hat die Kreativität beflügelt und DIY-Strukturen aufgebaut, die dazu geführt haben, dass aus Fanzines bundesweite Magazine entstanden sind und manche Bands ihre eigenen Labels gegründet haben.

Heute haben es Bands aber viel einfacher eine bundesweite oder sogar internationale Reichweite aufzubauen. Man kann über die Digitalisierung und Social Media schimpfen und als ewig Gestriger an Demo Kassetten und selbstkopierten Fanzines nostalgisch hängen, aber wer das Internet kritisch und geschickt nutzt, hat heute viel mehr Möglichkeiten – ohne klassische Gatekeeper wie A&Rs oder Musikredakteure. Das macht es nicht immer einfacher, aber es bleibt spannend, kreativ und sehr lebendig.
Peter Hesse: Erst mit zeitlicher Distanz entsteht die Möglichkeit, Popkultur kritisch zu betrachten. Auch wenn wir gerade bestimmt nicht die einfachste Zeit haben, sollte man nicht vergessen, dass die 1980er Jahre kein Party-Jahrzehnt waren, sondern geprägt vom Nato-Doppelbeschluss, Aids, Tschernobyl, Saurem Regen oder auch der Jugendarbeitslosigkeit. In Herne war 1987 jeder vierte zwischen 16 und 20 Jahren arbeitslos. Damals hatten längst nicht so viele die Chance ihr Abitur zu machen.
Und: Es war alles viel depressiver. Das Grundgefühl des ersten Jahrzehnts war von Ängsten geprägt. Die Punks trugen den Schriftzug „No Future“ auf ihren Lederjacken – die Umwelt- und Klimaschutz-Bewegungen heute nennt sich „Fridays For Future“. Es ist der kritische Blick auf die Zukunft, der beide Bewegungen eint, nur der Perspektiv-Winkel hat sich geändert.
„Früher war es nicht besser – aber einfacher. Vielleicht.“

Ben Richter: Ich denke auch, früher war es nicht besser – aber einfacher. Vielleicht. Den ganzen Ablenkungsmüll gab es nicht. Wir hatten drei Fernsehprogramme, je nach Wetterlage eher Schnee als Film. Internet, Handys, Netflix? No!
Und zu Hause? Bei den meisten der piefige Geruch von den „Wir haben von all dem nichts gewusst-Vergangenheitsverweigerern“ und die Meinung, die RAF zerstört unseren Wohlstand. Was tun? Raus! Raus aus der Bude! Irgendwer hat eine Mark für ein Bier, irgendwo spielt Musik, irgendetwas ist immer zu machen. Es waren teils wirklich harte Zeiten. Aber ich glaube von uns will sie niemand missen.
Kommt noch was in Sachen Underground? Ben Richter: Ja klar. Überall in der Stadt gibt es kleine Gruppen, Initiativen, Bands. Das wenigste davon bekomme ich zwar noch mit, weil die Werbung fast nur noch über die „sozialen“ Medien läuft. Aber was ich mitbekomme, mach mir Mut: Antifaschismus, Initiativen gegen den Mietenwahnsinn, Volxküchen, FLINTA und jede Menge neue, aufregende Bands: Da geht was.
Weitere Informationen
- Eröffnung Freitag 17. Oktober 2025 von 17:00 bis 22:00 Uhr, Annelise – Raum für Bücher und Bilder, Gneisenaustraße 30, 44147 Dortmund
- Das Buch ist in der Ausstellung und zum Beispiel im Buchladen von BODO erhältlich. Es kostet 20 Euro.
- Die Ausstellung endet am 2. November mit einer Versteigerung von Postern, Flyer, Fanzines, Fotos, Platten oder alten T-Shirts. Der Erlös aus dieser Versteigerung fließt vollständig in ein karitatives Projekt.
- DortmUnderground bei Instagram
Anm.d.Red.: Haben Sie bis zum Ende gelesen? Nur zur Info: Die Nordstadtblogger arbeiten ehrenamtlich. Wir machen das gern, aber wir freuen uns auch über Unterstützung!